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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Rauchsäulen himmelwärts. Die Ähnlichkeit war so auffällig, daß sie kein Zufall sein konnte.
    Dieses Bildnis war ganz bestimmt die unterbewußte Inspiration von Architekten auf der ganzen Welt. Erbauer von Ka-thedralen, Baumeister von Türmen, vielleicht sogar - wer konnte es wissen? - Kinder, die mit Bauklötzen spielten, hatten diesen Ort der Träume irgendwo im Hinterkopf und schufen, so gut sie konnten, Nachbildungen davon. Aber ihre Meisterwerke konnten nur Annäherungen sein, Kompromisse mit der
    Schwerkraft und den Grenzen ihres Mediums. Und keiner konnte jemals eine derart massive Arbeit vollbringen. Howie schätzte, daß Ephemeris viele Meilen im Durchmesser maß, und kein Teil davon schien nicht von einem Genie gestaltet worden zu sein. Wenn dies ein natürliches Phänomen war - und wer wußte schon, was an einem Ort des Geistes natürlich war?
    -, dann hatte es die Natur in einem Erfindungswahn geschaffen.
    Sie spielte Spielchen mit fester Materie, wie sie in der Welt, die er hinter sich gelassen hatte, ausschließlich Licht und Wolken möglich gewesen wären. Sie schuf Türme so dünn wie Grashalme, auf denen Kugeln so groß wie Häuser ruhten; sie erschuf steile Klippenwände, die wie Canyons ausgewaschen 627
    waren und sich wie Vorhänge an einem Fenster zu bauschen schienen; sie schuf spiralförmige Berge; schuf Felsen wie Brüste oder Hunde oder Abfälle von einem riesigen Tisch. So viele Ähnlichkeiten, aber er konnte nicht sicher sein, ob sie beabsichtigt waren. Ein Bruchstück, in dem er ein Gesicht gesehen hatte, gehörte ebenfalls zu den Ähnlichkeiten, welche auf den ersten Blick vorhanden waren; aber jedwede Interpretation war schon binnen eines Augenblicks Gegenstand von Veränderung. Vielleicht stimmten alle Ähnlichkeiten, vielleicht waren sie alle beabsichtigt. Vielleicht auch keine einzige, vielleicht war dieses Spiel der Vergleiche lediglich eine Methode seines Verstandes, mit dem Unermeßlichen fertig zu werden, so wie die Erschaffung des Piers, auf dem er sich der Essenz genähert hatte. Wenn dem so war, so konnte er einen Anblick jedenfalls nicht meistern, nämlich die Insel im Mittelpunkt des Archipels, die senkrecht aus der Essenz emporstieg; und auch der Rauch, der aus sämtlichen Spalten und Öffnungen quoll, strebte vertikal in die Höhe. Der Gipfel war völlig hinter Rauch verborgen, doch das Geheimnis, das er barg, war Nektar für die Seelenlichter, die ohne die Last von Fleisch und Blut dorthin emporstiegen, aber nicht in den Rauch eintauchten, sondern an seinen Blüten grasten. Er fragte sich, ob Angst sie davon abhielt, in den Rauch einzutauchen, oder ob dieser Rauch eine festere Barriere war, als es den Anschein hatte. Wenn er näherkam, würde er die Antwort vielleicht erfahren. Da er begierig war, möglichst schnell dort zu sein, unterstützte er die Flut mit eigenen Schwimmbewegungen, so daß er sich zehn oder fünfzehn Minuten, nachdem er die Ephemeris zum ersten Mal gesehen hatte, an ihr Ufer ziehen konnte. Sie war dunkel, aber nicht so dunkel wie die Essenz, und fühlte sich rauh unter seinen Handflächen an, kein Sand, sondern Verkrustungen, wie Korallen. War es möglich,
    überlegte er, daß der Archipel so erschaffen worden war wie die Insel, die er im Treibgut aus dem Vanceschen Haushalt 628
    gesehen hatte? Wenn ja, wie lange mußten sie schon im Meer der Träume sein, daß sie derart massiv geworden waren?
    Er schritt am Strand entlang und wählte den Weg nach links, weil er sich grundsätzlich immer für den linken Weg entschied, wenn er an eine Kreuzung kam und nicht wußte, welche Richtung er einschlagen sollte. Er hielt sich ganz dicht am Ufer, weil er hoffte, Jo-Beth wäre von derselben Flut angespült worden und er könnte sie finden. Nachdem er aus den
    beruhigenden Wassern gestiegen war und sein Körper nicht mehr gewiegt und getragen wurde, überkamen ihn Ängste, die ihm das Meer genommen hatte. Die erste, daß er den Archipel tagelang, vielleicht sogar wochenlang absuchen konnte, ohne Jo-Beth zu finden. Die zweite: Selbst wenn er sie fand, mußten sie sich immer noch mit Tommy-Ray befassen. Und Tommy-Ray war nicht alleine; er war mit Phantomen zum Haus von Vance gekommen. Die dritte - die in gewisser Weise seine geringste Sorge war, aber immer wichtiger wurde -, daß sich etwas in der Essenz veränderte. Es war ihm längst einerlei, welche Worte für diese Realität angemessen waren: Ob es sich um eine andere Dimension oder um einen Geisteszustand

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