Jenseits des Bösen
Raul«, keuchte Hotchkiss.
»Nein.«
»Wer...?«
Das letzte Wort, das er hörte, bevor die Lix, die sich um seine Brust geschlungen hatte, den Druck verstärkte, war die Antwort auf diese Frage. Ein aus zwei sanften Silben
bestehender Name. Kiss und soon . An diese Worte dachte er zuletzt, wie an eine Prophezeiung. Kiss soon - küsse bald.
Carolyn wartete auf der anderen Seite des Todes und hatte die Lippen gespitzt, um ihn auf die Wangen zu küssen. Das machte die letzten Augenblicke nach all den Schrecken erträglich.
»Ich glaube, wir stehen hier auf verlorenem Posten«, sagte Tesla zu Grillo, als sie aus dem Haus kam.
Sie zitterte von Kopf bis Fuß, die Stunden der Entbehrungen und Schmerzen forderten ihren Tribut. Sie sehnte sich nach Schlaf, aber sie hatte Angst, sie könnte denselben Traum haben 727
wie Witt in der Nacht zuvor: die Reise zur Essenz, die bedeutete, daß ihr Tod sehr nahe war. Vielleicht war es so, aber sie wollte es nicht wissen.
Grillo nahm ihren Arm, aber sie winkte ihn fort.
»Du kannst mich ebensowenig stützen wie ich dich...«
»Was geht da drinnen vor sich?«
»Das Loch öffnet sich wieder. Es ist wie kurz vor einem Dammbruch.«
»Scheiße.«
Mittlerweile ächzte das ganze Haus; die Palmen entlang der Einfahrt schüttelten abgestorbene Blätter ab, und die Einfahrt bekam Sprünge, als würde von unten mit Preßlufthämmern da-gegengehämmert werden.
»Ich sollte die Bullen warnen«, sagte Grillo. »Sie darauf aufmerksam machen, was bevorsteht.«
»Ich glaube, wir haben verloren, Grillo. Weißt du, was aus Hotchkiss geworden ist?«
»Nein.«
»Ich hoffe, er kann weg, bevor sie durchbrechen.«
»Er wird nicht gehen.«
»Sollte er aber. Keine Stadt ist es wert, für sie zu sterben.«
»Ich glaube, es wird Zeit für meinen Anruf, findest du nicht?«
»Was für einen Anruf?« sagte sie.
»Abernethy? Ihm die schlechte Nachricht überbringen.«
Tesla seufzte leise. »Ja, warum eigentlich nicht? Die letzte Reportage.«
»Ich komme wieder«, sagte er. »Glaub nicht, du könntest alleine von hier verschwinden. Nein. Wir gehen gemeinsam.«
»Ich gehe nicht.«
Er stieg ins Auto ein und merkte erst, als er versuchte, mit der Hand die Zündung in Gang zu bringen, wie stark das Beben im Boden geworden war. Als es ihm schließlich gelungen war, das Auto anzulassen und die Einfahrt entlang zum Tor zu 728
fahren, stellte er fest, daß es überflüssig war, die Polizisten zu warnen. Die Mehrzahl hatte sich ein gutes Stück den Hügel hinunter zurückgezogen, nur ein Fahrzeug mit zwei Männern als Beobachtungsposten stand noch vor dem Tor. Sie
beachteten Grillo kaum. Ihre einzigen Sorgen - eine beruflich, eine persönlich - galten der Beobachtung des Hauses und einer raschen Flucht, sollten sich die Risse in ihre Richtung ausbreiten. Grillo fuhr an ihnen vorbei den Hügel hinunter.
Einer der Beamten weiter unten am Hügel unternahm einen halbherzigen Versuch, ihn aufzuhalten, aber er fuhr einfach an ihm vorbei Richtung Einkaufszentrum. Er hoffte, daß er dort eine öffentliche Telefonzelle finden würde, um Abernethy anzurufen. Dort würde er auch Hotchkiss finden und warnen, sollte er nicht bereits wissen, was die Stunde geschlagen hatte.
Während er durch das Rattenlabyrinth von versperrten, aufgerissenen und in Schluchten verwandelten Straßen
manövrierte, experimentierte er mit Schlagzeilen für seine letzte Reportage. Das Ende der Welt ist nahe war zu gewöhnlich. Er wollte nicht einer in einer langen Reihe von Propheten sein, die die Apokalypse versprochen hatten, auch wenn sie diesesmal - endlich - eintraf. Als er ins
Einkaufszentrum einbog, kurz bevor er das Tohuwabohu der Tiere zu sehen bekam, hatte er eine Inspiration. Die Erinnerung an Buddy Vance' Sammlung hatte sie ausgelöst. Er wußte, es würde ihn teuflische Mühe kosten, Abernethy die Schlagzeile zu verkaufen, aber es gab keine angemessenere für die Story als Die Fahrt ist vorbei. Die Rasse hatte Spaß an ihrem Abenteuer gehabt, aber jetzt ging es zu Ende.
Er stellte das Auto am Rand des Parkplatzes ab, stieg aus und betrachtete das bizarre Schauspiel des Tierkarnevals. Er konnte nicht anders, er mußte lächeln. Wie wonniglich war ihr Leben; sie wußten nichts. Sie spielten in der Sonne und hatten keine Ahnung, wie knapp ihre Lebensspanne noch bemessen war. Er ging über den Parkplatz zur Buchhandlung, aber 729
Hotchkiss war nicht dort. Das Inventar lag auf dem Boden verstreut, Beweis für eine Suche,
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