Jenseits des Bösen
gewesen waren. Und selbst wenn sie sich einmal hierher verirrt hatten, waren sie bestimmt nie dorthin gegangen, wohin die Mädchen jetzt gingen: in den Wald.
»Hier ist es nicht kühler«, beschwerte sich Arleen, nachdem sie ein paar Minuten unterwegs gewesen waren. »Es ist sogar noch schlimmer.«
Sie hatte recht. Das Laub hielt zwar den sengenden Blick der Sonne von ihren Köpfen fern, aber die Hitze drang trotzdem zwischen den Ästen hindurch. Und weil sie dort festsaß, brachte sie die feuchte Luft zum Dampfen.
»Ich war seit Jahren nicht mehr hier«, sagte Trudi, die mit einem abgebrochenen Zweig durch eine Wolke Stechmücken
peitschte. »Ich bin immer mit meinem Bruder hergekommen.«
»Wie geht es ihm denn?« wollte Joyce wissen.
»Er ist immer noch im Krankenhaus. Der kommt da nie wieder raus. Die ganze Familie weiß es, aber niemand spricht es je aus. Macht mich krank.«
Sam Katz war körperlich und geistig gesund eingezogen und nach Vietnam geschickt worden. Im dritten Monat seiner Dienstzeit war beides von einer Landmine, die zwei seiner Kameraden das Leben gekostet und ihn selbst schwer verletzt hatte, zunichte gemacht worden. Seine Heimkehr war peinlich unbehaglich gewesen; die wenigen Mächtigen des Grove
waren in Reih und Glied angetreten, um den verstümmelten Helden willkommen zu heißen. Anschließend wurde viel von Opfern und Heldenmut gesprochen, viel getrunken, ein paar Tränen verborgen. Sam Katz hatte das alles ungerührt über sich ergehen lassen; sein Gesicht war nicht wegen der
Feierlichkeiten verkniffen, sondern teilnahmslos, als würde er im Geiste immer noch den Augenblick durchleben, da seine Jugend in Stücke gerissen worden war. Ein paar Wochen später war er ins Krankenhaus gekommen. Obwohl seine Mutter
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Neugierigen gesagt hatte, es sei wegen chirurgischer Eingriffe an der Wirbelsäule, wurden die Monate zu Jahren, und Sam kam nicht wieder. Alle konnten den Grund erraten, aber niemand sprach darüber. Sams körperliche Wunden waren angemessen verheilt. Aber sein Verstand hatte sich als weniger widerstandsfähig erwiesen. Die Teilnahmslosigkeit, die er nach seiner Heimkehr zur Schau gestellt hatte, war zu Katatonie geworden.
Die anderen Mädchen hatten Sam alle gekannt, obwohl der Altersunterschied zwischen Joyce und ihrem Bruder so groß war, daß sie ihn fast als Angehörigen einer anderen Rasse betrachtet hatten. Nicht nur ein Mann, was schon hinreichend merkwürdig war, sondern obendrein auch noch alt. Aber als sie die Pubertät hinter sich hatten, wurde die Achterbahnfahrt schneller. Sie sahen die Fünfundzwanzig am Horizont: noch ein Stück weit entfernt, aber sichtbar. Und da begriffen sie, wie vergeudet Sams Leben war, und zwar auf eine Weise, wie Elfjährige das nie hätten begreifen können. Liebevolle, traurige Erinnerungen an ihn brachten sie eine Weile zum Schweigen.
Sie schritten weiter durch die Hitze, Seite an Seite, ihre Arme streiften ab und zu aneinander, aber ihre Gedanken gingen eigene Wege. Trudi dachte an kindliche Spiele, die sie in diesem Dickicht mit Sam gespielt hatte. Er war ein geduldiger Bruder gewesen und hatte ihr erlaubt, ihn zu begleiten, als sie sieben oder acht und er dreizehn gewesen war. Ein Jahr später, als seine Hormone anfingen, ihm zu erzählen, daß Mädchen und Schwestern unterschiedliche Tiere waren, hatte er seine Einladungen zum Kriegspielen eingestellt. Sie hatte um den Verlust getrauert; eine Vorahnung der Trauer, die sie später bewußt empfinden sollte. Jetzt sah sie im Geiste sein Gesicht vor sich, eine seltsame Verschmelzung des Jungen von einst und des Mannes von heute; des Lebens, das er gehabt hatte, und des Todes, den er heute lebte. Es tat ihr weh.
Für Carolyn gab es kaum Kummer im Wachsein. Heute gar 80
keinen - abgesehen von ihrem Wunsch: sie hätte sich noch ein zweites Eis gekauft. Nachts war das wieder etwas anderes. Sie hatte Alpträume von Erdbeben. In ihnen klappte Palomo Grove wie ein Klappstuhl zusammen und verschwand von der Erde.
Das war die Strafe dafür, wenn man zuviel wußte, hatte ihr Vater zu ihr gesagt. Sie hatte seine ungezügelte Neugier geerbt und sie - als sie das erste Mal vom San-Andreas-Graben gehört hatte - auf das Studium der Erde gerichtet, auf der sie gingen.
Man konnte ihrer Festigkeit nicht trauen. Sie wußte, der Boden unter ihren Füßen war von Spalten durchzogen, die sich jeden Augenblick auftun konnten, wie sie sich unter Santa Barbara und Los Angeles und an der ganzen
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