Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
Hysterie gepackt. Sie fing zu heulen und zu schlottern an. Niemand kam sie trösten. Sie hatten kaum genügend Energie, einen Fuß vor den anderen zu setzen, geschweige denn, welche zu vergeuden, um das Mädchen zu beruhigen. Arleen überholte Trudi und Joyce und war als erste auf dem Gras, ließ sich auf den Boden fallen, wo sie die Kleider liegengelassen hatte, und versuchte, ihre Bluse anzuziehen, wobei sie um so heftiger schluchzte, weil sie die Ärmelöffnungen nicht fand. Einen Meter vom Ufer entfernt sank Trudi auf die Knie und übergab sich. Carolyn hielt sich abseits von ihr, gegen den Wind, denn sie wußte, ein Hauch Erbrochenes, und sie würde ihrem Beispiel folgen. Es war ein vergebliches Unterfangen. Die Würgelaute waren ein ausreichendes Stichwort. Sie spürte, wie sich ihr Magen umdrehte; dann bemalte sie das Gras kotzgrün und
    95
    eiscremefarben.
    Obwohl sich die Szene, die er beobachtete, vom Erotischen zum Entsetzlichen und zuletzt zum Ekelerregenden gewandelt hatte, konnte William Witt den Blick nicht davon abwenden.
    Er würde den Anblick der Mädchen, die aus dem Wasser
    herauskamen, in dem er sie ertrunken wähnte, und von ihren Anstrengungen, oder durch Druck von unten, so heftig
    emporgestoßen wurden, daß ihre Brüste wogten, bis an sein Lebensende nicht vergessen.
    Jetzt war das Wasser, das sie fast geholt hatte, ruhig. Kein Wögchen bewegte sich; keine Blase stieg zur Oberfläche. Und doch - konnte er bezweifeln, daß sich vor seinen Augen etwas anderes als ein Unfall abgespielt hatte? Etwas Lebendes war in dem See. Die Tatsache, daß er lediglich dessen Auswirkungen gesehen hatte - das Rudern, das Schreien - und nicht das Ding selbst, erschütterte ihn bis ins Mark. Und er würde die Mädchen auch niemals fragen können, welcher Art ihr
    Angreifer gewesen war. Er war allein mit dem, was er gesehen hatte.
    Zum ersten Mal in seinem Leben lag die selbstgewählte Rolle des Voyeurs schwer auf ihm. Er schwor sich, daß er nie wieder jemandem nachspionieren würde. Es war ein Schwur, den er einen Tag hielt, dann brach er ihn.
    Was dieses Ereignis betraf, davon hatte er genug. Von den Mädchen konnte er nur noch die Umrisse von Hüften und Po-backen sehen, da sie im Gras lagen. Und nachdem das
    Erbrechen vorbei war, hörte er nur noch Weinen.
    Er schlich sich, so leise er konnte, davon.
    Joyce hörte ihn. Sie richtete sich im Gras auf.
    »Jemand beobachtet uns«, sagte sie.
    Sie betrachtete das sonnenbeschienene Blattwerk, das sich erneut bewegte. Nur der Wind, der durch die Blätter strich.
    Arleen war es endlich gelungen, in die Bluse zu schlüpfen.
    Sie saß da und hatte die Arme um sich geschlungen. »Ich will 96
    sterben«, sagte sie.
    »Nein«, sagte Trudi. »Dem sind wir gerade entgangen.«
    Joyce legte wieder die Hände vors Gesicht. Die Tränen, die sie besiegt zu haben glaubte, kamen wieder, eine Sturzflut.
    »Was, in Gottes Namen, ist geschehen?« sagte sie. »Ich dachte, es wäre nur... Regenwasser.«
    Carolyn lieferte die Antwort, ihre Stimme war beherrscht, zitterte aber.
    »Unter der ganzen Stadt sind Höhlen«, sagte sie. »Sie müssen während des Sturms mit Wasser vollgelaufen sein. Wir sind über den Schlund von einer geschwommen.«
    »Es war so dunkel«, sagte Trudi. »Habt ihr nach unten gesehen?«
    »Da war noch etwas«, sagte Arleen. »Außer der Dunkelheit.
    Etwas im Wasser.«
    Als Antwort darauf wurde Joyce' Schluchzen noch heftiger.
    »Ich habe nichts gesehen«, sagte Carolyn. »Aber gespürt.«
    Sie sah Trudi an. »Wir haben es alle gespürt, oder nicht?«
    »Nein«, sagte Trudi kopfschüttelnd. »Es waren Strömungen aus den Höhlen.«
    »Es hat versucht, mich zu ertränken«, sagte Arleen.
    »Nur Strömungen«, beharrte Trudi. »Ist mir auch vorher passiert, am Ufer. Strömungen. Haben mir den Boden unter den Füßen weggezogen.«
    »Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte Arleen unverblümt.
    »Warum belügst du dich selbst? Wir wissen alle, was wir gespürt haben.«
    Trudi sah sie stechend an.
    »Und was war das?« fragte sie. »Genau.«
    Arleen schüttelte den Kopf. Mit dem am Kopf klebenden Haar und dem verschmierten Rouge sah sie ganz und gar nicht mehr wie die Ballkönigin von vor zehn Minuten aus.
    »Ich weiß nur, daß es keine Strömung war«, sagte sie. »Ich habe Gestalten gesehen. Zwei Gestalten. Keine Fische. Über-97
    haupt keine Fische.« Sie sah von Trudi weg und zwischen ihre Beine. »Ich habe gespürt, wie sie mich angefaßt haben«, sagte sie

Weitere Kostenlose Bücher