Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
Meinst du, er würde zu uns kommen?“
„Ich weiß nicht. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob er mich wiedersehen möchte, wenn er erst alles weiß, was er wissen muss. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr mich das ängstigt.“
„Ich kann es mir wohl vorstellen. Doch du bist so mutig. Ich bin sicher, die Entscheidung, einem Feyon einen Sohn zu gebären, erforderte viel Mut. Ob ich selbst so mutig wäre, weiß ich nicht.“
Sie errötete und senkte den Blick.
„Mutig, aber auch selbstsüchtig. Ich habe mir etwas gewünscht, das ich vermutlich niemals hätte tun oder haben dürfen.“
„Geht uns das nicht allen so?“
Kapitel 27
McMullen las den Absatz noch einmal.
„Drude“, stand da, „die, weiblich. Phänomen hauptsächlich in ländlichen Gegenden vermeldet, jedoch nie zur Gänze erforscht. (Vermutlich ein Märchen.) Unterschiedliche europäische Kulturen verzeichnen unterschiedliche Charakteristika. Manche sehen hier eine Abwandlung des Vampirmythos, ein Wesen, das sich von der menschlichen Essenz an sich ernährt anstatt von menschlichem Blut. Andere Beschreibungen gehen von einem Geistwesen oder Dämon aus, der einen Menschen befällt und diesen wiederum gefährlich für andere macht. Jungfrauen sollen ganz besonders geeignete Gefäße für einen Drudengeist sein. Ist eine solche erst einmal besessen, so sucht das Mädchen sich mitten in der Nacht einen Mann, besteigt dessen Körper und saugt ihm entweder die Kraft, die Seele oder den Atem aus. Darüber, was den Opfern tatsächlich ausgesaugt wird, variieren die Berichte vielfach.“ McMullen grinste und las weiter. „Eine Jungfrau, die man verdächtigt, von einer Drude besessen zu sein, kann durch gelehrte Austreibung geheilt werden – oder durch Entjungferung. Berichte über das tatsächliche Fangen oder Festsetzen des Geistwesens selbst gibt es nicht. Innerhalb des gesammelten Wissens über die Fey ist dem Drudenmythos nur wenig Wahrheitsgehalt zuzurechnen. Es handelt sich nur um eine Legende, die letztlich nicht mehr ist als eine Ausrede von skrupellosen Männern, junge Mädchen anzugreifen. Faktisch sind keine Todesfälle durch Drudeneinfluss archiviert oder nachzuweisen. Allerdings sterben genügend Menschen plötzlich nächtens im Schlaf, ohne dass ein logischer Grund angegeben werden kann.“
Arme Mädchen, dachte Ian. Sie fielen einem populären Mythos zum Opfer. Mythen wurden von der Geschichtsforschung kaum beachtet, außer in den Logen. Die Gebrüder Grimm hatten begonnen, Märchen und örtlichen Aberglauben zu sammeln, doch mehr war es eben nicht. Alles, was nur durch mündliche Überlieferung weitergegeben wurde, veränderte sich über die Zeit. Erzählungen wandelten sich von Erzähler zu Erzähler, wurden übertrieben oder so abgeändert, dass sie dem einen oder anderen Zwecke dienten.
Er nahm einen weiteren Folianten zur Hand und suchte nach besseren Erklärungen. „Drude“, stand da. „Feyon-Kreatur, die Christenseelen jagt. Aussehen unbekannt. Häufigkeit unbekannt. Keine zuverlässigen Quellen bekannt. Da es keinerlei Beweise für die tatsächliche Existenz dieser Kreaturen gibt, sind auch keine Gegenmittel bekannt.“
Die Existenz war wohl nicht mehr die Frage. Es existierte, sah aus wie eine Spinne und saugte Menschen das Leben aus. Außerdem war es ein Feyon, und deshalb war es ihm vermutlich einerlei, ob das Opfer ein Christ, ein Moslem oder ein Jude war oder einen altägyptischen Hundegott anbetete. Die Sí zeigten sich weitgehend unbeeindruckt von menschlichen Religionen und fanden sie ebenso dogmatisch wie langweilig.
Er nahm ein weiteres Buch.
„Drude“, las er. „Geistwesen, dem nachgesagt wird, es könne eine menschliche Seele übernehmen oder einen Menschen besessen machen. Solche Phänomene sind in den meisten Religionen bekannt. In der jüdischen Mythologie zum Beispiel kennt man den Dybbuk, einen körperlosen menschlichen Geist, der gezwungen ist, unruhig umherzuwandern, bis er den Körper eines lebenden Menschen übernehmen kann. Dieser Aberglaube ist mit dem Konzept der Seelenwanderung eng verknüpft.“
Auch hier kein Hinweis auf eine Riesenspinne. McMullen war ziemlich sicher, dass sein Freund nicht von einem menschlichen Geist heimgesucht worden war, der etwa für ein sündiges Leben büßen musste. Ganz bestimmt war die Erscheinung allerdings auch keine kleine Jungfrau gewesen.
Also schlug er unter „Jungfrau“ nach.
„Jungfrau“, las er. „Weibliches Wesen, das keine Kenntnisse
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