Jenseits des leuchtenden Horizonts - Roman
Erin.
»Wahrscheinlich ist er gar nicht in Alice Springs«, sagte Bradley, in der Hoffnung, sie zu beruhigen. »Du hast uns doch erzählt, dass Marlees Familie aus der Gegend um den Ayers Rock stammt. Vielleicht ist er ja dahin gegangen.«
»Er meinte, er wolle zurück nach Alice Springs«, erwiderte Erin, die allmählich Aufregung verspürte.
»Trotzdem, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihr euch in einer Stadt mit mehreren Tausend Einwohnern über den Weg lauft?«, fragte Gareth. »Ich sehe, dieses furchtbare Wetter deprimiert dich«, fügte er hinzu, obwohl er wusste, dass das nicht die Hauptursache für ihre Niedergeschlagenheit war. »Ganz bestimmt möchtest du doch wieder die warme Sonne auf deinem Gesicht spüren.«
Das stimmte tatsächlich. »Vielleicht könnte ich ja auch in einer anderen Stadt Aborigine-Kunst kaufen«, überlegte Erin.
»Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Gareth. Er warf Bradley einen Hilfe suchenden Blick zu. »Aber du erwähntest einen Galeristen, der vielversprechende Künstler in Alice Springs ausbeutet.«
»Felix Stowe«, erwiderte Erin, und ihr fielen wieder die Männer und Frauen ein, die den ganzen Tag in der Sonne saßen und für ein geringes Honorar für ihn arbeiteten.
»Wäre das nicht die Gelegenheit, ihnen zu helfen?«, fragte Gareth.
»Ich glaube schon«, entgegnete Erin. »Ich werde darüber nachdenken, Dad.« Sie wusste, dass Bradley recht hatte. Jonathan war wahrscheinlich zum Ayers Rock aufgebrochen, um Marlees Familie zu suchen.
Schließlich war es die Vorstellung, den begabten Künstlern in Alice Springs helfen zu können, die Erins Entscheidung besiegelte. Sie schickte ein Telegramm an Cornelius und kündigte an, dass sie auf dem Weg zu ihm sei.
43
Erin traf um zehn Uhr an einem Sonntagmorgen in der Stadt Darwin an der Nordküste Australiens ein. Die Temperatur lag bereits bei dreißig Grad, und die Luftfeuchtigkeit hatte beinahe einhundert Prozent erreicht. Trotz ihrer Müdigkeit stieg sie seufzend vor Freude aus dem Flugzeug. Es war so herrlich, wieder den blauen Himmel zu sehen und die Wärme zu spüren. Sofort suchte sie das nächstgelegene Hotel auf, von dem aus man einen Blick auf den malerischen Hafen hatte, und buchte ein Zimmer für die Nacht. Ihr Schlafrhythmus war völlig durcheinandergeraten, und so wachte sie nach einem kurzen Nickerchen unter einem surrenden Deckenventilator wieder auf. Auf der Veranda des Hotels, von der aus man aufs Wasser schaute, aß sie zu Mittag, doch es fühlte sich an, als hätte es das Frühstück sein müssen.
Erin entschied, einen Spaziergang entlang des Hafendamms zu machen, wo sie auf eine kühle Brise hoffte. Draußen über der See brauten sich dunkle Wolken zusammen. Es war Regenzeit, und so drohte ein nachmittägliches Unwetter. Trotzdem konnte sie nicht anders, sie seufzte, weil es so herrlich war, die Sonne wiederzusehen.
»Sie müssen ein Pom sein«, sagte ein Angler, der auf dem Hafendamm saß, in breitem australischem Englisch, als sie an ihm vorbeiging. Seine gebräunten Beine baumelten über dem Wasser. Neben ihm schlugen in einem Eimer glücklose Fische mit den Flossen.
Erin sah ihn an, erst dann wurde ihr klar, dass er mit ihr gesprochen hatte. »Was heißt das?«, erkundigte sie sich.
»Pom? Prisoner of Mother England, Sträfling, den das Mutterland hierherschickte«, erklärte der Angler voller Ernst.
Die Haut seines wettergegerbten Gesichts war wie braunes Leder, was ihn sicher älter erscheinen ließ, als er war. Er trug ein offenes, kurzärmliges Hemd, das seinen gebräunten Körper zeigte, Shorts, die in die Lumpensammlung gehört hätten, und er war barfuß. Erin staunte einmal mehr über die Lässigkeit, mit der die Australier sich kleideten.
»Ich bin kein Sträfling von irgendwo«, sagte sie genauso ernst.
Der Angler lachte. »Das ist so ein Ausdruck, mit dem wir die Engländer meinen. Mir ist ja bloß aufgefallen, wie weiß Ihre Haut ist. Ich schätze also, Sie sind gerade erst angekommen.«
»Ja, vor ein paar Stunden. Es ist wunderschön hier.«
»Tja, Darwin ist gar nicht so übel, wenn man bedenkt, dass die Stadt schon ein paarmal zerstört wurde. Aber wir hier sind ein Völkchen, das sich nicht unterkriegen lässt.«
»Zerstört? Wie denn?«
»Mehr als einmal sind wir von mächtigen Zyklonen von der Karte ausradiert worden. An den Zyklon von 1937 erinnere ich mich noch, als wäre es gestern gewesen. Zur Welt gekommen bin ich tatsächlich auch während eines
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