Jenseits des Meeres
Augen. Im ersten Moment hatte sie keine Ahnung, wo sie sich befand, doch bei der leicht schaukelnden Bewegung wusste sie es dann wieder: Sie befand sich auf dem Boot, welches den Nordkanal überquerte, über sich ein wolkenloser Himmel und warmer Sonnenschein auf ihrem Gesicht. Irgendwann in der Nacht hatte sich das Unwetter verzogen.
Morna. Erste Erinnerungen blitzten in ihr auf. Nun kannte sie außer ihrem eigenen noch einen weiteren Namen: Morna. Die alte Morna. Doch wer war das? Eine ältere Tante oder Base? Eine Dienerin? Ach, egal. Irgendwann würde sie es wissen. Davon war sie jetzt überzeugt.
Megan blickte sich um. Die anderen schliefen. Dem Kapitän war es gelungen, das Schiff zum Land zu steuern. Es dümpelte in Küstennähe auf dem Wasser. Der Kapitän hatte den Anker ausgeworfen, bevor er sich, von der nächtlichen Überfahrt völlig erschöpft, bei der Ruderpinne schlafen gelegt hatte. Colin hatte sich ausgestreckt, den Riemen hielt er noch in der Hand.
Kieran war als Einziger wach. Gegen die Reling gelehnt, schaute er zur felsigen Küste hinüber.
Megan stand auf und guckte ebenfalls zum Land hinüber. Lange, felsige Finger schienen bis weit in den Ozean zu reichen. Der Strand war übersät mit Felsbrocken. Dahinter erhoben sich sanft ansteigende grüne Hügel mit strohgedeckten Katen. Hier und da grasten Schafe. Es sah nicht viel anders aus als die Gegend, welche sie gerade hinter sich gelassen hatten. Mein Land, dachte sie traurig. Ihre Heimat lag nun am anderen Ufer des Wassers, das sie eben überquert hatten.
Als Kieran bemerkte, dass sie wach war, kam er zu ihr, vermied es jedoch sorgsam, sie zu berühren.
„Willkommen in Irland, Megan.“
Sie wandte sich ihm zu. „Befindet sich Eure Heimstatt weit von hier?“
„Nicht sehr weit - sie ist nur einen Tagesmarsch entfernt.“
„Sollen wir Colin wecken?“
Kieran warf einen Blick auf seinen schlafenden Bruder. „Nein, Colin mag ruhig noch weiterruhen. Die Überfahrt hat ihn doch sehr mitgenommen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Kommt, Megan. Ich kann es kaum erwarten, meinen Fuß auf irischen Boden zu setzen.“
Sie ergriff die Hand und spürte wieder die Kraft, die in seinem Griff lag. Sogleich erinnerte sie sich an den Kuss in der vergangenen Nacht und errötete tief.
Zusammen stiegen sie von Bord, wateten durch die schäumende Brandung und stiegen über Felsbrocken, bis sie endlich auf trockenem Boden standen.
„Ah, wie das duftet! Wie sich das anfühlt!“ Kieran wandte das Gesicht zur Sonne und atmete tief ein. „Den Duft meiner Heimat trug ich während all der langen Wochen im Kerker stets in meinem Herzen.“
„Fürchtetet Ihr nicht, Eure Heimat niemals wieder zu sehen?“
„Nein, nie. Die Kerkermauern waren nicht dick genug, um mich von hier fern zu halten. Ich wusste immer, dass ich eines Tages nach Irland zurückkehren würde.“
Die Liebe zu seiner Heimat verstand Megan und vermochte sie mit ihm zu teilen. Obgleich ihr eigenes Land in weiter Ferne jenseits des Nordkanals lag, wusste sie doch, dass sie Schottland einmal wiedersehen würde, und das ließ sie sich von niemandem ausreden. Wenn ihr Gedächtnis zurückkehrte, wollte sie auch ihren
Landbesitz wieder für sich beanspruchen.
Kieran und sie hörten, dass die anderen beiden ebenfalls aufgewacht waren. Colin schwang sich gerade über die Reling und watete zu ihnen.
„Sind wir tatsächlich daheim, Kieran?“
„Ja, das sind wir.“
Colin seufzte erleichtert. „Endlich haben wir diese entsetzliche Reise hinter uns gebracht. Ich fürchtete schon, dem Unwetter würde gelingen, was Fleet und Henkersknechte nicht geschafft hatten.“
Als der Kapitän zu ihnen hinüberschaute, kam Megan plötzlich ein Gedanke. „Was geschieht eigentlich, wenn Kapitän MacLachlan merkt, dass Ihr beide keineswegs Gesandte der Königin seid und es überhaupt keinen Schatz gibt?“
Kieran klopfte auf den Beutel, der an seiner Taille baumelte. „Der gute Kapitän hat sein Gold verdient. Und was den Rest meiner Geschichte angeht“, fügte er lächelnd hinzu, „so braucht er die Wahrheit nie zu erfahren. Von mir aus soll er doch vor seinen Enkeln prahlen, er habe einst in den Diensten der Königin gestanden.“
Während Colin und Megan lachten, kehrte Kieran wieder an Bord zurück und bezahlte den Kapitän. Kurz darauf watete er wieder ans Ufer und winkte dem Boot nach, das erneut den Nordkanal überquerte.
„Der Kapitän war so großmütig, uns das Wasser und die
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