Jenseits des Tores
Lippen zitterten in tonlosem Flüstern. Erst nach einer Weile wurden ihre Worte verständlich.
»Nein ...«, wisperte sie. »Nein ... nicht ... bitte nicht ...«
Und dann vernahm Moritz zwei Worte von ihr, die ihm völlig fremd waren Sie klangen wie ... Hidn Mun ...?
Der junge Bursche kam nicht dazu, weiter darüber nachzusinnen. Denn kaum hatte er die seltsamen Worte gehört, als sich die Ereig-nisse auch schon überschlugen!
Die Plane des Wagens wurde aufgerissen!
Flackernder Lichtschein fiel ins Innere des Karrenaufbaus, und mit ihm drangen durcheinander rufende Stimmen zu Moritz vor.
Schatten verdunkelten die einfallende Helligkeit. Dann fühlte der junge Mann sich auch schon von Fäusten gepackt und von Lena her-abgezerrt.
»Seht euch diese Teufelei an!« Die Männerstimme quoll schier über vor Ekel und Entsetzen.
»Diese Brut treibt es gar mit Leichen!« schrie ein anderer der Eindringlinge auf.
»Moment! Das junge Ding rührt sich noch, es ist nicht tot!«
»Dann nehmt das Mädchen mit! Keiner von denen soll seiner Strafe entgehen. Ausmerzen wollen wir die verdammte Bande mit Stumpf und Stiel!« donnerte Konrad Hoyer haßerfüllt.
So wurde auch Lena ergriffen und mit Moritz und ihrer Mutter aus dem Karren gezerrt. Doch während die beiden sich zeternd und mit Gewalt zur Wehr setzten, ließ das Mädchen alles über sich ergehen. Mit angstvollem Blick zwar, aber ohne etwas gegen die grobe Behandlung zu tun. Als wüßte sie nicht einmal, wie es zu tun wäre.
»Verflucht!« brüllte es an ihrem Ohr. »Das Ding hat die Pest im Leib!«
»Nicht mehr lange! Das Feuer wird sie ihr schon austreiben!«
Der Lagerplatz auf dem Hügel über der Stadt wimmelte von umherrennenden Menschen, und das Feuer von Fackeln schuf zusätzlich die Illusion von Bewegung. Schreie, wütende und schmerzvolle, mengten sich zu einem infernalischen Chor, in den die brüllenden Zugtiere der Ziegäuner noch einfielen. Fast schien es, als hätte sich die Hölle selbst einen Spalt weit aufgetan, um einen Abglanz dessen herauszulassen, was in ihrer Tiefe vor sich ging.
Das Mädchen sah allerlei seltsame Gerätschaften durch die Luft sausen und auf die Männer und Frauen ihres Völkchens einprügeln.
Schreiend und fluchend brachen sie unter den Hieben von Dreschflegeln und Forken nieder. Gegen die Übermacht der aufgebrachten Meute, die wie eine Kriegshorde in das Lager eingefallen war, hatten sie nicht den Hauch einer Chance.
Dennoch verging eine lange Weile, ehe etwas wie Ruhe einkehrte auf dem Hügel. Die aufgebrachten Männer und Frauen scharten sich zu einem Kreis, in dessen Mitte sie das fahrende Volk geschleift hatten. Ein paar von ihnen lagen blutend da, schon wie tot, anderen waren Arme oder Beine auf brutale Art verdreht worden, so daß sie nicht mehr fliehen konnten. Doch in keinem Blick war wirkliche Angst; selbst den Schmerz schienen sie zu verdrängen. Der aufgebrachten Menge schlug nur eisiger Haß entgegen, einer spürbaren Woge gleich, und darin verbarg sich ein Gefühl, das noch hundertfach übler war.
Ihre Wut konnte dieser Haß indes nicht kühlen. Im Gegenteil schien er sie noch anzufachen. Denn sie erwiderten die Blicke ihrer Gefangenen mit verzerrten Gesichtern, die kaum noch Menschliches an sich hatten. Im Grunde standen sie denen, die sie niedergeknüppelt hatten, kaum nach in diesen Momenten.
Lena wurde von Konrad Hoyer und Gottlieb Müller als letzte auf den Haufen von Leibern gestoßen. Zwischen ihrer Mutter und Moritz kam sie zu liegen. Mit stierem Blick beobachtete sie, was weiter geschah - als ginge sie all dies nichts an ...
Ein junger, unscheinbarer Mann trat aus der Menge und stellte sich zwischen seine Leute und die Gefangenen.
»Ihr wißt, weshalb wir gekommen sind!« rief Johann Kleyla dem Gesindel zu. Natürlich erwartete er keine Antwort. Seine Worte waren nur eine Feststellung.
»Ihr habt einen der unseren ermordet, und sein Leben soll mit eurem Tod gesühnt werden. Ihr habt euch selbst zuzuschreiben, was mit euch geschieht. Wäret ihr weitergezogen, ohne euren Fluch über uns zu bringen, so wäre euch das schlimmste aller Schicksale erspart geblieben.«
Kleyla setzte eine wohlbemessene Pause. Dann fuhr er fort:
»So aber habt ihr uns zu euren Richtern erkoren. Und das Urteil kann nur euer aller Tod sein. Wir sind keine Henker in unserer Stadt, aber wir tun, was getan werden muß. Möge der Allmächtige uns vergeben. Aber wir tun es auch, um andere, die ihr nach uns heimgesucht
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