Jenseits des Tores
weitersprach: »Wer ist ... unser Herr ...?«
»Sie scheint die Erinnerung verloren zu haben.« Lorenz war es, der die Vermutung, die in ihnen allen dämmerte, flüsternd aussprach. Zustimmendes Murmeln antwortete ihm.
»Es scheint so«, meinte Adelheid. »Die Macht, die sie heilte, wird sie noch zudecken. Wir müssen ihr Zeit lassen, all das zu verarbeiten. Sie mag sich fühlen wie ein Neugeborenes.«
»Wovon redet ihr?« flüsterte Lena mit vagem Entsetzen in der Stimme.
»Ganz ruhig«, sagte Adelheid. Dann gab sie den anderen einen Wink. »Helft mir, sie in den Wagen zu bringen. Sie soll ruhen. Im Schlaf mag sie wieder zu sich finden.«
Moritz und Lorenz traten vor und halfen Lena auf die Beine. Während die anderen zurückblieben, führten sie das nackte Mädchen fort. Lenas Schritte waren zaghaft und wacklig, als traute sie ihren Beinen nicht zu, ihr Gewicht zu tragen.
Schließlich hoben die beiden Männer sie in den Karren. Moritz kletterte ihr nach und bettete sie auf das Lager aus Stroh und Fetzen.
Fast apathisch ließ Lena alles mit sich geschehen. Ihr Blick schien in weite Ferne gerichtet. Wo sie Dinge sah, die nichts mit diesem Leben zu tun hatten.
Nicht einmal mit dieser Welt .
*
Die düstere, stickige Gaststube des Straßenwirtshauses war besetzt bis hin zum letzten Platz. Trotzdem hätte man eine Nadel zu Boden fallen hören können, so still war es. Das Schweigen lag über den Männern wie ein drückendes Gewicht, das ihnen selbst den Atem schwermachte.
»Ein Gewitter war's, sonst nichts.«
Obwohl der alte Christian Voith nicht sonderlich laut gesprochen hatte, hallten seine Worte dumpf dröhnend in der niedrigen Stube.
»Dann war's aber eines, das uns den Weltuntergang schauen ließ«, meinte Gottlieb Müller.
Wieder kehrte Stille ein. Ein jeder der Männer hatte noch das furchtbare Donnerdröhnen im Ohr, und hie und da warf einer einen sorgenvollen Blick zum Fenster hin, ob der Widerschein der Blitze auch wirklich verloschen war.
»Narren.«
Wie auf ein Kommando hin wandten sich alle Blicke jenem zu, der das eine Wort in die Runde gesprochen hatte.
»Narren«, wiederholte Konrad Hoyer.
»Was redest du da?« fragte Voith, sich unter dem finster drohenden Blick Hoyers ein wenig duckend.
»Das weißt du so gut wie jeder hier«, erwiderte Hoyer, ein Mann von der Statur eines Bären und mit Kräften gesegnet, die denen des Tieres kaum nachstanden. Er machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: »Das war kein Gewitter. Es kann keinen Zweifel geben, wer das Spektakel heraufbeschworen hat.«
Sein Blick ging zum Fenster hin, doch jeder wußte, daß er tatsächlich weiter hinaus sah, bis hinauf zum Kirchberg, wo seit Tagen die Ziegäuner lagerten.
»Red du nur keinen Unsinn«, wandte Voith ein. »Das ist kein übles Gelichter da droben. Sind nur anders als wir, haben eine andere Art zu leben. Vielleicht gar keine üble, wenn ich mir die unsere so betrachte und anschaue, was sie uns eingetragen hat.«
»Du versündigst dich!« donnerte Hoyer. Er war ein gottesfürchti-ger Mann, und den Krieg und die Not, die er übers Land gebracht hatte, sah er als Strafe des Herrn an, so wie er weiland die Menschheit in der Sintflut ersäuft hatte, als sie es gar zu bunt getrieben hatte.
»Vielleicht haben sie dich am Ende gar schon verhext?« meinte Heinrich Meister, der selbst im Kriege gekämpft hatte und mit nur mehr einem Bein heimgekehrt war, zum Voith. Sein Gesicht war schmal und fahl, weil der Schmerz des Stumpfes ihn nimmer losließ.
»Hüte deine Zunge!« fuhr Voith auf. »Sonst schneid' ich sie dir aus dem Maul und werf sie hin, auf daß sie neben deinem Bein verfaule!«
»Hört auf!«
Johann Kleyla erhob sich von der Bank. Er war weder groß noch sonst in einer Weise beeindruckend von Gestalt oder Alter. Ein Jungspund war er - aber einer, auf dessen Wort man hörte, weil er es zu führen verstand wie kein anderer. Weswegen man ihn auch zum Bürgermeister erkoren hatte.
Er wartete geduldig, aber mit energischem Blick, bis das Murren in der Runde sich gelegt hatte.
»Seht ihr nicht, was sie längst schon angerichtet haben, ohne auch nur etwas zu tun oder zu sagen?« fragte er dann mit genau bemessenem beschwörenden Tonfall in der Stimme. »Ihr seid drauf und dran, euch einander an den Hals zu gehen - allein der Sache wegen, daß sie da oben lagern.«
»So sind sie doch des Teufels«, sah Konrad Hoyer sich bestätigt durch Kleylas Worte. Doch der hob beschwichtigend die Hand.
»Das habe
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