Jenseits des Tores
nahe gewesen wie hier! Er hustete und überlagerte damit selbst die Klänge, die aus der Schwärze immer noch zu ihm drangen.
Wer schlich dort herum?
Als er es endlich erfuhr, als sich Gesicht und Körper des Geschöpfs aus dem Wogen schälten und zu erkennen gaben, schrie Landru auf, wie er noch nie in seinem Leben geschrien hatte.
Er brüllte sich die Lunge aus dem Leib!
Die Gestalt beeindruckte es nicht. Unaufhaltsam kam sie näher, gekleidet in ihre wiedergewonnenen Häute und bewaffnet mit der schrecklichsten aller Erinnerungen, die sich je in Landrus Gedächtnis eingegraben hatten: mit der Opferschlange!
»Mutter?«
Seine Gedanken zerstoben.
Kein Zweifel, es war die Frau, die er getötet hatte. 1
Die Urmutter aller Vampire ...!
*
Vor dem Steinfeld blieb sie stehen.
Sie war unglaublich schön.
Eine Frau, schlank von Gestalt, deren Blöße einen Sturm der Gefühle in Landru entfachte. Dunkelheit umrahmte ihr Gesicht, glänzendes Dunkel, das sich mühelos von der wabernden Nebelschwärze der Umgebung unterschied. Wie zwei tiefe Seen inmitten einer weiß verschneiten Winterlandschaft schimmerten ihre Augen. Augen, die den Grund von Landrus Seele nicht nur berührten, sondern ihn in einem einzigen Moment erforschten und alles dort fanden, was er niemandem je hatte zugänglich machen wollen!
Auch (und gerade) ihr nicht!
Sie konnte nur ein Trugbild sein! Ebenso wie die Waffe, die sie ihm vorwurfsvoll entgegenhielt.
»Ich wußte, daß wir uns noch einmal gegenüberstehen würden -am jüngsten aller Tage!«
Unter ihrer Stimmgewalt erzitterte selbst der Nebel.
Am jüngsten aller Tage ... zum Jüngsten Gericht? Gab es auch für Vampire ein solches Tribunal? Für die Kinder von Adams erster Frau Lilith?
Landru löste mühsam den Blick vom Antlitz der spukhaften Erscheinung und heftete in an die Opferschlange in ihrer Hand. Die gebogenen Zähne des Stabs waren noch mit Blut besudelt.
Liliths Blut?
Die Erinnerung spülte verdrängten Ekel in ihm hoch. Ekel, weil der mörderische Stab ihn damals gezwungen hatte, nicht der Mutter Blut zu verschmähen .
Diesen Moment würde er nie vergessen!
Den Moment, als sie vor ihm im Staub gelegen hatte und verblutet war. Er war Hals über Kopf vom Ort seiner Tat geflohen, aber vor sich selbst, vor den Gedanken und der Schuld, die seither in ihm wucherten, gab es kein Entkommen.
Er hatte etwas Unverzeihliches getan!
Die eigene Mutter .
Landru duckte sich und spannte die Muskeln. Wie ein zum Sprung bereites Raubtier stand er da. In seinen Augen glomm ein Hilfeschrei. Ein Flehen und Betteln, diese Halluzination möge wieder verschwinden, möge sich dorthin verflüchtigen, woher sie gekommen war, und ihn nie wieder heimsuchen .!
»Verschwinde!« fauchte er rauh.
Es rührte sie nicht.
Auf andere Weise als das Tor wirkte auch sie wirklicher als die übrige Umgebung. Aber Landru mochte sich gar nicht erst vorstellen, daß sie aus Fleisch und Blut beschaffen sein könnte. Daß sie nicht am Anfang der Zeit zurückgeblieben und im Schatten des Garten Edens gestorben war, sondern seine feige Attacke überlebt hatte .
(Was, wenn sie ihm diese Falle gestellt hatte? Wenn sie ihm jenseits des Tors aufgelauert hatte? Aber hätte dann dieses Tor nicht ähnlich wie der Korridor der Zeit beschaffen sein müssen? Und welche Rolle hätte dann Gabriel innegehabt ...?)
Landru trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er wollte es nicht wahrhaben, doch die quälende Möglichkeit, daß es genau so sein könnte, blieb.
»Was willst du?« herrschte er Lilith an. »Wenn es dich tatsächlich gäbe . was hättest du dann vor?«
»Wie hübsch formuliert.« Ihr Gesicht blieb unbewegt. Maskenhaft kühl. Unnahbar in seiner arroganten Überheblichkeit.
(Wie damals, dachte Landru. Als ich sie strafte.)
»Ich will und werde dir wehtun! Ich werde auch dein Blut schmecken und mich ekeln ...!«
Sie hob die Schlange. Geformt aus der dunklen Macht, dem Chaos, das sie der göttlichen Ordnung entgegengesetzt hatte.
Landru war hin und her gerissen zwischen dem Glauben, sie nicht fürchten zu müssen, und der Sorge, sich dessen nicht absolut sicher sein zu können.
Was, wenn sie doch real war? Oder seine Realität aufgehoben worden war, um von dieser Gaukelei ausgelöscht werden zu können?
Wer hätte solche Allmacht besitzen sollen?
Er, dachte Landru und suchte vergeblich in den wabernden Nebeln nach Ihm. Aber das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht nur von seiner Mutter Bild, wurde
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