Jenseits von Feuerland: Roman
Kleidung, die die Frauen trugen. Am merkwürdigsten waren ihre Strümpfe und Schuhe – so etwas kannte sie nicht. Seit sie denken konnte, war sie immer barfuß gelaufen, zumindest im Frühling und Sommer. Nur im Winter, wenn der Boden zu kalt war, hatte sie manchmal lederne Stiefel angezogen. Doch diese Frauen gingen offenbar nie bloßfüßig. Sie erinnerte sich an Erzählungen ihres Vaters, wonach nur die vornehmsten Chileninnen Schuhe trugen. Nun, offenbar waren auch die deutschen Siedlerinnen sehr vornehm.
Als sie an den Vater dachte und an seine samtige Stimme, stiegen wieder Tränen auf – und wieder unterdrückte sie sie mit aller Macht. Sie war sich sicher, dass sie sterben würde, wenn sie sich den Erinnerungen hingab.
Für gewöhnlich versank sie in gnädiger Schwärze, wenn sie abends einschlief. Doch in der vierten Nacht wurde sie von bedrohlichen Träumen verfolgt. Soldaten tauchten darin auf, mit Säbeln und Gewehren, und plötzlich sah sie auch das weiße Hemd des Kaziken, wie es sich langsam rot färbte, sah ihren Vater, wie er reglos vor ihr gelegen war und ihr mit letzter Kraft befohlen hatte, zu fliehen.
Sie erwachte im Morgengrauen laut schreiend, und auch als sie die Augen aufschlug und sich im weichen Bett wiederfand, glaubte sie immer noch das Lachen der Soldaten zu hören, das Getrampel ihrer Pferde, die Schüsse ihrer Gewehre. Sie würden auch sie holen. Sie würden nicht zulassen, dass ihnen eine Rothaut entkommen war.
»Still!« Emilias Stimme drang durch das Grauen. »Sei still! Es ist alles gut! Ich bin doch da!«
Als sie in die gütigen blauen Augen blickte, verstummte sie kurz. Doch dann fiel ihr Blick auf den fremden Mann, der neben Emilia stand – ein großer, weißer Mann wie die Soldaten, die das Dorf überfallen hatten –, und sie schrie abermals auf.
»Besser, du gehst«, sagte Emilia zu ihm. »Dein Anblick macht ihr Angst, Manuel!«
Der Mann schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber ich tue ihr doch gar nichts!«
»Allein dass du hier bist, ist für sie unerträglich.«
»Was kann ich denn dafür, dass ich nach meiner Handelsreise wieder nach Hause gekommen bin?«
»Halte dich einfach von ihr fern! Sie hat gewiss Schlimmes durchgemacht. Sie braucht noch Zeit …«
Der Mann mit dem Namen Manuel schüttelte weiterhin den Kopf. Aber schließlich fügte er sich Emilias Worten und verließ den Raum.
Die Mapuche-Frau hörte zu schreien auf. Die Bilder aus dem bösen Traum verblassten. Sie war in Sicherheit. Niemand würde ihr etwas antun. Sie lag in einem warmen Bett, und es gab diese Frauen, die sich um sie kümmerten.
Später ließ sich Emilia auf einem Stuhl neben ihrem Bett nieder. Der Stuhl sah sehr merkwürdig aus – bis jetzt hatte sie ihn gar nicht bemerkt. Er stand nicht auf vier Beinen, sondern auf einem gebogenen Stück Holz, und Emilia wippte leicht vor und zurück.
»Das ist ein Schaukelstuhl«, erklärte sie, als sie ihren verwunderten Blick bemerkte.
Die Mapuche-Frau senkte die Augen. Sie erwartete, dass Emilia sie wieder bestürmen würde zu reden. Doch stattdessen hatte sie heute etwas anderes vor. Sie hielt ein Buch in den Händen – ein Buch, wie auch Bruder Franz so viele besessen hatte –, und dieses schlug sie nun auf.
»Ich dachte, ich könnte dir etwas vorlesen«, sagte Emilia. »Wir haben alle lesen gelernt. Von Jule. Das ist eine der ersten deutschen Siedlerinnen gewesen, die sich hier niedergelassen haben. Jule war eine ganz ungewöhnliche Frau. Sie hatte keinen Mann und keine Kinder, sondern lebte ganz alleine, und sie sagte immer, dass ihr das am liebsten wäre und dass sie niemanden bräuchte. Sie hat sehr viel von Medizin verstanden, und wenn jemand krank war, ist er damit immer zu ihr gegangen. Leider ist sie vor einiger Zeit gestorben, und seitdem kümmert sich Barbara um die Kranken. Sie hat viel von Jule gelernt, aber so viel wie Jule weiß sie nicht. Jule war eine strenge Lehrerin. Wehe, wenn wir zu langsam lernten! Aber vielleicht war das gut so, denn so können wir alle lesen. Die Bücher sind im Übrigen aus Valdivia. Annelie fährt regelmäßig dorthin und kauft sie. Als Jule noch lebte, hat sie eine Bibliothek gegründet, und heute wacht Annelie darüber. Wir besitzen mittlerweile viele Bücher. Das hier, das heißt Fünfzig Fabeln für Kinder von D. Speckter. Wir haben auch Märchenbücher. Von den Gebrüdern Grimm und von Wilhelm Hauff. Und Liederbücher von Reinick. Ich könnte dir auch Arabesken vorlesen. Oder
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