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Jenseits von Feuerland: Roman

Jenseits von Feuerland: Roman

Titel: Jenseits von Feuerland: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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Unbehagen in ihr hoch. Doch sie fühlte sich träge, viel zu träge, um den schrecklichen Erinnerungen ins Gesicht zu sehen. Weit über ihr schienen sie zu kreisen wie Raubvögel, doch sie waren nicht hungrig genug, um sich auf sie zu stürzen und auf sie einzuhacken. Sie blickte sich suchend um und erkannte, dass nicht weit von ihrem Bett die blonde Frau saß, der sie gestern als erste begegnet war. Erst starrte diese sie sorgenvoll an, dann breitete sich Erleichterung in ihren Zügen aus. Offenbar bot sie nicht mehr den schrecklichen Anblick von gestern.
    Schweigend maßen sie sich eine Weile. Die Mapuche-Frau wollte etwas sagen, doch ihre Kehle fühlte sich wie ausgedörrt an. Nur ein Stöhnen brachte sie zustande.
    »Warte!«, rief die blonde Frau. Sie erhob sich, ging nach draußen und kam wenig später mit Essen wieder. Ja, schon wieder bekam sie etwas zu essen!
    Diesmal war es dunkles, aus ganzen Körnern gebackenes Brot – außen knusprig, aber innen saftig weich. Butter schmolz darauf und troff über ihre Hände. Es tat weh, die Bissen durch die wunde Kehle zu würgen, trotzdem konnte sie sich abermals nicht beherrschen, langsam zu essen.
    Als sie satt war, überkam sie plötzlich Angst – keine Angst vor den Erinnerungen, sondern davor, dass es nicht so bleiben würde. Dass man sie aus dem Bett werfen würde, weil sie eine Rothaut war. Dass sie nichts mehr zu essen bekommen würde.
    Doch die blonde Frau blieb an ihrer Seite und lächelte sie überdies scheu an. Und auch die Frauen, die später immer wieder nach ihr sahen, wirkten freundlich. Sie redeten auf sie ein, und obwohl die Worte, die sie zu ihr sagten, sie nicht erreichten, spürte sie dennoch, dass es fürsorgliche waren. Anfangs waren es viele fremde Gesichter, die sie nicht unterscheiden konnte. Doch in den Tagen, die folgten und die sie weiterhin im Bett verbrachte, lernte sie die Namen kennen, die zu den Gesichtern gehörten.
    Da gab es Annelie, die ihr die Mahlzeiten brachte, wenn es die blonde Frau nicht tat, und die glücklich lächelte, wenn sie hungrig aß. Manchmal kicherte sie – nicht aus Spott, wie die Mapuche-Frau zunächst befürchtet hatte, sondern aus Unsicherheit. Die ganz alte Frau, Christine mit Namen, stand oft mit gerunzelter Stirn daneben. Vor ihr hatte die Mapuche-Frau am meisten Angst, denn Christine lächelte nie. Aber auch sie schien nichts dagegen zu haben, dass sie zu essen bekam und in dem Bett liegen durfte. Die Frau mit den leuchtend braunen Augen und den Grübchen auf den Wangen hieß Barbara. Das Deutsch, das sie sprach, war am schwersten zu verstehen, es klang kehlig und rauh. Und dennoch war die Stimme von Barbara schön, insbesondere wenn sie sang. Und sie sang oft, auch dann, wenn sie ihre Wunden mit frischem Leinen verband.
    Die meiste Zeit verbrachte die blonde Frau bei ihr, die Emilia hieß und wunderschöne blaue Augen hatte. Sie war viel jünger als die anderen, wahrscheinlich so alt wie sie, siebzehn oder achtzehn Jahre. Manchmal lächelte sie sie an. Manchmal redete sie auf sie ein. Warum sie denn nichts mehr sagen würde? Sie würde doch des Deutschen mächtig sein!
    Die Mapuche-Frau wollte ihr so gerne den Gefallen tun, aber sie konnte nicht. Sie konnte das Essen schlucken, aber sie konnte keine Silbe hervorbringen und das Lächeln nicht erwidern. Sie konnte nur hoffen, dass die Erinnerungen nicht wiederkehrten. Und sie konnte beobachten. Anfangs hatte sie nur das Bett wahrgenommen, in dem sie lag. Später bestaunte sie die übrige Einrichtung des Zimmers, das ganz anders war als die vertraute Ruca, so viel heller und höher und größer. Vor den Fenstern hingen weiße Gardinen, gegenüber vom Bett befand sich ein Spiegel. Am faszinierendsten waren der eiserne Ofen und die Kommode.
    »Die ist aus Mahagoni«, erklärte Emilia, die ihrem Blick gefolgt war. »Ein Zimmermann aus Valdivia hat sie gebaut. Sie war sehr teuer …«
    Die Mapuche-Frau hatte keine Ahnung, was Mahagoni war. Sie wusste nur, dass es dergleichen in der Ruca nicht gegeben hatte. Dort waren sie auf Fellen oder Leder am Boden gelegen oder gesessen. Kurz vermeinte sie, den erdigen Geruch zu schmecken, den die Großmutter ausgeströmt hatte, und prompt stiegen Tränen hoch – Tränen der Sehnsucht und der Trauer. Doch sie schluckte sie schnell wieder herunter. Sie ahnte, dass sie nicht wieder damit aufhören könnte, wenn sie erst einmal zu weinen begann.
    Nicht nur die Einrichtung bestaunte die Mapuche-Frau, sondern auch die

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