Jenseits von Feuerland: Roman
deutschen Siedler vertraut, sie kannte auch den Rhythmus, dem deren Arbeitstag unterlag. Bei Sonnenaufgang wurde aufgestanden. Der erste Gang führte in den Stall, wo die Kühe gemolken wurden. Zurück im Haus, wurde Feuer gemacht und Kaffeewasser aufgesetzt. Bis das Wasser kochte, fütterten die Frauen die Hühner, ehe hinterher Kaffee getrunken, die Haare frisiert und die Betten gemacht wurden. Später stand Garten- und Feldarbeit an und immer wieder irgendwelche Pflichten, die in den Kuhstall führten.
Zunächst hatte sich die Mapuche-Frau von Emilia berichten lassen, was sie den Tag über trieb, wenn sie gerade nicht bei ihr am Bett saß und ihr vorlas. Später hatte sie sie durch die Fenster beobachtet, deren Glas – ein fremdes Material – sie ehrfürchtig betastete. Irgendwann – ihre Füße waren verheilt, die Kratzer und blauen Flecke, die von ihrer aufreibenden Flucht kündeten, verblasst – hielt sie es nicht mehr drinnen aus.
Sie fragte, ob sie aufstehen dürfte, und nachdem Barbara sie noch einmal untersucht und es ihr erlaubt hatte, begleitete Emilia sie nach draußen. Die ersten Schritte taten so weh, als würde sich ein Messer in ihren Leib drehen. Nicht nur die gerade verheilten Fußsohlen hielten der Last ihres Körpers kaum stand – sämtliche Glieder schienen nach dem langen Liegen verkümmert zu sein.
Am ersten Tag im Freien wurde sie nach kurzer Zeit müde, am zweiten waren die Schmerzen etwas erträglicher. Am dritten fühlte sie sich zwar immer noch nicht so kräftig und wendig wie einst, aber auch nicht mehr so uralt und gebeugt.
Sie folgte Emilia, als diese ihr die Ställe, die Vorratskammern und den Garten zeigte. Auch vor der Ruca ihrer Großmutter hatten sie einen kleinen Garten angelegt, und sie hatten Löcher in die Erde gegraben, um dort Gemüse und getrocknetes Fleisch aufzubewahren, aber Ställe waren ihr völlig fremd. Die Tiere liefen bei ihnen im Freien herum.
Emilia lachte, als sie die Stirn runzelte. »Als die Deutschen die ersten Ställe errichteten, waren die Chilenen genauso verwirrt wie du. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, dass man Rinder einsperren kann! Nun, jetzt im Frühjahr kommen sie bald auf die Weide und in den Wald. Dort laufen sie frei herum. Aber im Herbst werden sie wieder eingefangen, weil sie auf sich gestellt nicht genügend Futter finden und viele von ihnen verenden würden. Wir hingegen bringen ihnen Quila – das kennst du doch, oder? Das ist eine Bambusart!«
Die Mapuche-Frau wollte nicht darüber nachdenken, ob sie davon schon gehört hatte. Zu tief müsste sie in den Erinnerungen wühlen, und das wollte, das konnte sie nicht.
»Komm!«, rief Emilia und zog sie am Arm. »Komm, wir wollen zum See gehen.«
Die Mapuche-Frau scheute die Nähe von Wasser. Früher hatte sie gerne in den Tümpeln rund um die Mission gebadet, aber als sie nun auf die blaue, an manchen stellen silbrig leuchtende Weite des Llanquihue-Sees blickte, erinnerte sie sich daran, wie sie auf ihrer Flucht vor den Soldaten am Fluss gehockt war, ihr Spiegelbild kaum erkannt und begriffen hatte, dass sie ihren Namen nicht mehr wusste.
»Zum Wald«, sagte sie heiser, »ich will lieber in den Wald gehen …«
Die hohen Bäume versprachen Schutz; das weiche Moos und das sumpfige Unterholz würden ihre Schritte dämpfen und ihr das Gefühl geben, unsichtbar zu sein.
Auf dem Weg zum Wald kamen sie am Backofen vorbei – aus Cancagua, einer Art Sandstein, gebaut, wie Emilia zu berichten wusste. Der Brotgeruch, der ihn umwehte, war verlockend, doch da sie eben gefrühstückt hatten, konnte sie ihm widerstehen. Als sie die Scheune mit den Pferden passierte und die Mapuche-Frau das Getrampel der Hufe hörte, zuckte sie ängstlich zusammen. Sie wollte Emilia ihre Panik nicht zeigen, beschleunigte jedoch die Schritte. Schließlich kamen sie an einem Feld vorbei – noch nicht beackert, sondern eine weite Fläche aus dunkler Erde.
»Eines der Weizenfelder«, erklärte Emilia. »Bald wird die Zeit der Aussaat kommen. Manuel bildet sich ein, dass wir dieses Jahr auch einmal Tabak anbauen sollten.« Sie verdrehte die Augen, doch ihr Lächeln war stolz. »Einem unserer Nachbarn ist das gelungen, aber der verstand viel mehr von der Landwirtschaft als Manuel. Manuel will den Tabak ja vor allem verkaufen. Manuel will ständig irgendetwas verkaufen, damit wir endlich reich werden.«
Das Mädchen war sich nicht sicher, ob es Emilias Worte richtig verstand. Hier waren doch alle
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