Jenseits von Feuerland: Roman
du mit ihr verwandt?«
Emilia senkte ihren Blick. »Das war meine Mutter«, sagte sie leise.
Das Mädchen verstand, warum sie nicht näher kam und warum sich ihre Züge verhärtet hatten. Wahrscheinlich trauerte sie um sie. Das Grab war frisch, sie konnte noch nicht lange tot sein. Ja, sie trauerte um ihre Mutter wie sie selbst um ihren Vater, ihre Großmutter trauerte … wobei: Sie durfte nicht trauern, durfte nicht daran denken, sie würde zugrunde gehen, wenn sie in ihren Gedanken die schrecklichen Ereignisse immer und immer wieder neu erleben musste!
»Darf ich ihren Namen haben?«, fragte die Mapuche-Frau unvermittelt.
»Bitte?« Emilia hob den Kopf und riss die Augen auf.
»Ich kann mich nicht an meinen Namen erinnern«, meinte das Mädchen verlegen. »Aber ich brauche doch einen! Ich habe gehört, wie ihr über mich geredet habt. Das Mapuche-Mädchen, habt ihr gesagt. Aber ich will viel lieber einen Namen haben!«
»Ausgerechnet den von meiner Mutter?«
»Du hast mich gefunden und versorgt. Du warst so gut zu mir!«
Emilia runzelte die Stirn. Sie schien etwas sagen zu wollen, doch noch ehe sie ein Wort hervorbrachte, schloss sie die Lippen und kniff sie fest zusammen.
Die Verlegenheit der Mapuche-Frau wuchs. »Oder darf ich ihn etwa nicht haben … diesen Namen?«, fragte sie unsicher.
»Als wäre ein Name ein Vögelchen, das man fangen und in einen Käfig sperren könnte!«, stieß Emilia aus.
Ihr schroffer Tonfall verunsicherte das Mädchen noch mehr. Es verknotete die Hände hinter dem Rücken.
»Ich wollte dir nicht zu nahetreten.«
»Und ich wollte dich nicht kränken!«, entgegnete Emilia rasch. Ein Ruck ging durch ihre Körper, das Dunkle, Nachdenkliche schwand aus ihren Zügen. Sie trat auf die Mapuche-Frau zu und ergriff ihre Hände. »Wenn es dir so wichtig ist, dann nimm meinetwegen diesen Namen. Aber die meisten Siedler haben ihre deutschen Namen längst in spanische geändert. Margareta – das heißt hierzulande Margarita.«
»Margarita …«, murmelte die Mapuche-Frau. »Rita …«
Ja, dieser Klang war ihr irgendwie vertraut. Vielleicht hatte sie den Namen nicht zufällig gewählt, sondern weil er sie an den erinnerte, den sie früher getragen hatte. Sie nickte entschlossen. »Ja«, bekräftigte sie. »Ab heute werde ich Rita heißen.«
Und ab heute werde ich keine Angst mehr haben, fügte sie im Stillen hinzu. Ab heute werde ich nur mehr nach vorne schauen.
4. Kapitel
E milia …«
Die Stimme war leise, schwindend leise. Zuerst klang es wie ein rasselnder Atem. Dann wurde aus den erstickten Silben ein Name – ihr Name. Immer wieder ertönte er …
»Emilia … Emilia … Emilia …«
Emilia wollte sich erheben, konnte es jedoch nicht. Sie wollte der Stimme folgen, aber wusste, dass es sinnlos war. Sie träumte ja nur, dass die Stimme sie rief; im wirklichen Leben konnte diese Stimme nie wieder nach ihr rufen – denn die Frau, der sie gehörte, war tot.
»Emilia …«
Jetzt sah sie sie auch, wie sie am See stand, mit einem ihrer weißen Kleider, ihre Mutter, Margareta Suckow, oder, wie alle sie genannt hatten, Greta. Der Wind riss an dem dünnen Stoff. Die Schultern und die Knie stachen spitz darunter hervor. Greta hatte am liebsten Weiß getragen, was ihre Haut noch durchsichtiger erscheinen hatte lassen, das erst blonde, dann ergraute Haar noch heller, die blauen Augen noch farbloser. Meist waren ihre Kleider zu kurz gewesen, zerrissen und fleckig, und hatten gerade mal über die Knie gereicht.
»Emilia …«
Als sie sie da stehen sah, war Greta nicht buckelig und faltig wie in den letzten Jahren vor ihrem Tod. Nicht nur ihre Kleidung, auch ihre schmale Gestalt erinnerten an die eines kleinen Mädchens, unscheinbar, schutzbedürftig, kindlich. Ja, das war eines ihrer Gesichter gewesen – ihrer so vielen Gesichter.
Emilia hatte zu Lebzeiten nicht gewusst, wer ihre Mutter wirklich gewesen war, und nach deren Tod begriff sie es noch weniger. Manchmal war sie ein Mensch gewesen, der inbrünstig nach Liebe suchte, manchmal einer, der von glühendem Hass aufgefressen wurde. Emilia fühlte in ihrer Nähe immer Unbehagen und Mitleid zugleich, fühlte sich von ihr angezogen und abgestoßen, von dem Wunsch überwältigt, ihr zu helfen und ihr das zu geben, was sie brauchte, und dann wieder zermürbt, weil sie instinktiv wusste, dass alles, was sie für sie tun konnte, immer zu wenig war. Zu wenig, um Gretas Hunger nach Liebe zu stillen. Zu wenig, um Gretas
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