Jenseits von Feuerland: Roman
Wahnsinn zu bannen.
»Emilia …«
Jetzt trat Emilia langsam auf die Gestalt zu. Doch als sie sie erreichte, als sie nach ihr fassen wollte, löste sie sich auf – dem Rauch des Feuers gleich, in dem Greta vor einigen Monaten erstickt war, nachdem sie selbst ihr Haus angezündet hatte.
Kein weiteres Mal hörte Emilia, wie ihr Name geraunt wurde. Stattdessen ertönte ein Aufschrei, durchdringend und panisch.
Ruckartig fuhr Emilia hoch und gewahrte, dass sie selbst geschrien hatte. Die ganze Zeit über hatte sie geahnt, dass sie in einem Traum gefangen war, und doch war sie nun zutiefst bestürzt, sich nicht neben der Mutter am See wiederzufinden, sondern in ihrem Bett. Sie war schweißgebadet, das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie schnappte nach Luft. Sie tastete ihr Gesicht ab, als hätte der Blick ihrer Mutter – traurig und höhnisch zugleich – dort Wunden hinterlassen, aber ihre Haut fühlte sich unversehrt an. Um sich zu beruhigen, flocht sie aus ihrem Haar, das wirr vom Kopf abstand, einen Zopf. Danach hatte sich ihr Herzschlag etwas verlangsamt, doch das Unbehagen grummelte weiterhin in ihrem Magen. Ihre Kehle fühlte sich so eng an, als hätte jemand sie zugedrückt … so wie ihre Mutter einst versucht hatte, Elisa von Graberg zu erwürgen …
Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verdrängen, und ihr Blick fiel auf das Mapuche-Mädchen, auf Rita, wie sie sich nun nannte, die in dem Bett neben ihr lag. In den letzten Nächten hatte sie selbst oft unter der Last von Träumen geächzt, hatte gewimmert und geschluchzt. Doch nun schlief sie tief und fest; selbst Emilias panischer Schrei hatte sie nicht wecken können.
Emilia betrachtete sie nachdenklich. War Rita schuld an ihrem Traum?
Sie hatte ja keine Ahnung, was für zwiespältige Gefühle sie in Emilia ausgelöst hatte, als sie ausgerechnet Gretas Namen wählte! Sie dachte gewiss, dass sie ihr, Emilia, einen Gefallen täte. Stattdessen hatte sie böse Erinnerungen zum Leben erweckt – Erinnerungen an Greta, wie sie ihrer Tochter die Hochzeit mit Manuel verbieten wollte, daran, wie sie sie eingesperrt hatte, an ihren grausamen Tod im Feuer, an die Trauer danach – und irgendwie auch an die Wut. Ja, Emilia war so oft auf ihre Mutter wütend gewesen, nicht nur zu ihren Lebzeiten, auch nach ihrem Tod. Sie hatte sich dafür geschämt, hatte sich wieder und wieder gesagt, dass Greta eigentlich ein guter Mensch gewesen wäre, nur ihr grausamer Vater und ihr Bruder sie zu dem gemacht hatten, was sie am Ende war – nämlich verbittert und verrückt gleichermaßen. Aber sie konnte es nicht leugnen: Sie empfand es als Makel, Gretas Tochter zu sein, die Tochter einer Frau, die viele als böse Hexe bezeichneten, allen voran Poldi Steiner, Manuels Onkel. Es war, als trüge sie ein Mal, das sie von den anderen Siedlern unterschied.
Emilia schüttelte erneut heftig den Kopf. Was dachte sie nur? Was redete sie sich da nur ein? Natürlich gehörte sie zu den anderen Siedlern! Für Annelie war sie wie eine Tochter, für Christine wie eine Enkelin und für Manuel die Frau, die er liebte!
Sie legte sich wieder hin und schloss die Augen. Sie durfte Greta keine Macht über ihr Leben zugestehen, entschied sie trotzig, bevor sie einnickte, die Mutter hatte kein Recht darauf, ihr über den Tod hinaus eine Last zu sein …
Der Schlaf bis zum Morgen war unruhig und voller Träume, aber zumindest tauchte Greta nicht mehr darin auf.
Als Emilia aufstand, fühlten sich ihre Beine bleiern an – so, als hätte sie in der Nacht nicht geschlafen, sondern wäre durch den Wald gerannt. Dennoch schritt sie tatkräftiger als sonst zur Arbeit. Sie molk die Kühe, mistete den Stall aus, jätete Unkraut – all das noch vor dem Frühstück. Ihre Bewegungen waren nicht nur schnell und gründlich, sondern hektisch. Es war, als würde sie jemand belauern und nur darauf warten, dass sie schlampig arbeitete, dass sie einen Fehler beging, sie sich als keine gute Siedlerin herausstellte.
Emilia …
Sie zuckte zusammen, als sie wieder das Raunen aus dem Traum zu hören vermeinte, doch dann beschloss sie, nicht darauf zu achten, sondern stur weiterzuarbeiten. Ganz gleich, wer ihre Mutter gewesen war – sie war tüchtig! Und sie wurde geliebt!
Das Mapuche-Mädchen … oder nein, sie musste sich endlich angewöhnen, an sie als Rita zu denken … trat zu ihr und sah sie fragend an. Wahrscheinlich erhoffte sie sich, sie würden gemeinsam aus den Büchern
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