Jenseits von Feuerland: Roman
dafür gab. Furcht, dass böse Erinnerungen sie lähmten und wieder zu der verzweifelten Frau mit den toten Augen machten, die sie wie ein dunkler Schatten begleitete. Furcht, dass Aurelia, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war, irgendwann nach ihrem Vater fragen würde. Furcht schließlich, dass sie sie nicht ausreichend liebte, diesen Rest an Scheu und Unbehagen einfach nicht loswerden konnte. Manchmal hatte sie das Gefühl, all das wäre von ihr abgefallen, und sie umarmte und liebkoste Aurelia wie jede Mutter ihr Kind. Doch dann kehrte sie plötzlich wieder – diese durchsichtige Wand, die zwischen ihnen beiden aufragte. Sie konnte sie zwar immer wieder aufs Neue überwinden. Aber sie brauchte so viel Kraft dazu.
Ja, es gab so viele Ängste, die sie, kleinen Kisten gleich, durchs Leben schleppte. Sie waren zwar gut verschlossen, aber trotzdem schwer.
»Wie hast du eigentlich früher geheißen?«, fragte Maril.
Auch die Frage nach ihrem Mapuche-Namen stellte er nicht zum ersten Mal, doch wie jedes Mal schüttelte Rita den Kopf. Damals beim Brand der Herberge, als sie so eindringlich den Befehl ihres Vaters vernommen hatte, hatte sie kurz vermeint, sich wieder an ihren Namen erinnern zu können. Aber wenn sie sich nun darauf konzentrierte, blieb es in ihr stumm.
»Ich heiße Rita«, sagte sie mit heiserer Stimme, und dann drängte sie sich an Maril vorbei, um wieder ins Freie zu Aurelia und Ana zu treten. »Nur Rita.«
Am Abend saß Rita mit Aurelia und Balthasar zusammen. Ihre Hände brannten noch von der mühsamen Prozedur, mit der sie neues Leder hergestellt hatte, aber sie war stolz, dass es am Ende so glatt geworden war wie das von Maril. Früher hatte sie oft Fehler gemacht, so dass das Leder am Ende hart und spröde war, aber mittlerweile waren ihr die Arbeitsabläufe in Fleisch und Blut übergegangen. Heute hatte sie Rohfelle erst enthäutet und dann konserviert, indem sie Salz auf die Innenfläche, vor allem auf die nichtbehaarten Fellteile, rieb und dann das Fell fest zusammenrollte, wobei der Kopfteil außen liegen musste, damit dort die entstehende Flüssigkeit abtrat.
Während Aurelia und Balthasar leise miteinander sprachen und Rita sich die geröteten Hände mit Butter eincremte, spielte Maril auf einer Flöte. Diese sah sehr merkwürdig aus, und wenn er nicht diese ebenso schönen wie traurigen Töne erzeugt hätte, hätte Rita dieses weiße Ding niemals für ein Instrument gehalten. Es war aus dem Schenkelknochen eines Guanakos hergestellt – das gleiche Material, aus dem Maril auch die Würfel gemacht hatte, mit denen Aurelia so gerne spielte. Während Rita der Musik ergriffen lauschte, hielt sich Ana, die auf die üblichen nächtlichen Spaziergänge verzichtete, wenn Maril bei ihnen war – dass das eine mit dem anderen zu tun hatte, hätte sie allerdings nie zugegeben –, die Ohren zu.
»Dieses Gejaule ist nicht auszuhalten!«, klagte sie. »In Ernestas Saloon wurde ständig immer irgendwelche schiefe Musik gespielt. Das reicht für ein Leben.«
»Wer ist Ernesta?«, fragte Aurelia neugierig.
Rita warf Ana einen mahnenden Blick zu. Sie wollte nicht, dass Ana in Gegenwart des Kindes über die Vergangenheit sprach.
Doch Ana missachtete sie. »Eine Frau, deren Parfüm dich hundert Meter gegen den Wind anweht …«, erklärte sie eifrig.
Aurelia wusste zwar nicht, was ein Parfüm war, weil sie hier in der Pampa nur grobe Seife hatten, kicherte aber trotzdem.
»Und sie trägt Schmuck, Unmengen an Schmuck«, fuhr Ana fort. »Ihre Ohrringe sind so groß wie deine Handflächen und ihre Ohrläppchen auch, weil sie ja ständig von diesem Gewicht beschwert werden. Und selbst im Sommer trägt Ernesta Pelz.«
Aurelia schüttelte sich vor Lachen. Balthasar, vor dem wie immer ein Skizzenblock lag, zeichnete blitzschnell eine Frau nach Anas Beschreibung, und obwohl er Ernesta nie mit eigenen Augen gesehen hatte, stellte Rita erstaunliche Ähnlichkeiten fest, als sie sich wenig später über das fertige Bild beugte.
Unwillkürlich erschauderte sie. Erinnerungen an jene Nacht stiegen in ihr hoch, da sie befürchten mussten, nur als Hure in Ernestas Diensten überleben zu können. Auch wenn sie diesem Schicksal entgangen waren – bis heute mussten sie ihr hohe Abgaben zahlen, was Emilia jedes Mal zu bösen Flüchen trieb.
Wenigstens musste Emilia nun dieses Bild nicht sehen. Obwohl es längst dunkel war, war sie noch draußen im Schafstall beschäftigt. Was genau sie dort trieb,
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