Jenseits von Feuerland: Roman
wusste Rita nicht – nur, dass sie Emilia nie so viel hatte arbeiten sehen wie im letzten Jahr. Oft fragte sie sich, woher sie ihre Kräfte nahm, zumal sie niemals müde schien. Immerhin scheuchte sie Rita nicht mehr herum wie einst, sondern war zunehmend von Ritas Gespür für Leder, Wolle und Stoffe begeistert. Sie ließ ihr freie Hand bei der Herstellung, war aber umso eifriger, wenn es später um den Verkauf ging. Bis jetzt hatten sie vor allem Fleisch und Fett verkauft – doch seit einigen Monaten war Emilia entschlossen, in den Textilhandel einzusteigen, und hatte Geschäftskontakte mit der Textilfabrik Bellavista in Tomé, der größten Fabrik der Provinz Concepción, begonnen.
Rita war das nur recht, obwohl es ihr nichts bedeutete, wenn Emilia von dem Geld sprach, das sie mit Stoffen und Leder verdienen könnten. Dass sie gerne mit Wolle arbeitete, dass sie immer wieder Experimente machte und Neues lernte – so zum Beispiel, dass sich Schafwolle viel leichter zu Decken und Teppichen verweben ließ als Guanakofell –, genügte ihr vollends. Sie hätte es auch dann noch mit ganzer Leidenschaft getan, wenn es keinen einzigen Peso eingebracht hätte.
»Ich will auch zeichnen! Ich will auch zeichnen!«, rief Aurelia nun.
Balthasar hob sie auf seinen Schoß, gab ihr Kohlestift und ein Blatt Papier. Rita schüttelte missbilligend den Kopf, weil er so verschwenderisch mit seinem kostbaren Papier umging. Allerdings konnte sie nicht leugnen, dass Aurelia mittlerweile sehr gut zeichnen konnte. Nicht immer stimmten die Proportionen, aber ihre Porträts hatten Ausdruck.
Wenig später hielt sie stolz das Bild hoch. »Schau!«, forderte sie energisch und hielt es Rita so dicht vor die Augen, dass sie gar nicht anders gekonnt hätte, als darauf zu blicken. Unwillkürlich hielt sie den Atem an und konnte nicht verhindern, dass ihre Mimik erstarrte.
»Wer … wer soll das sein?«, setzte sie stammelnd an.
»Ich weiß es nicht. Ich habe mir die Frau einfach nur ausgedacht«, rief Aurelia.
Ritas Blick war immer noch starr auf das Bild gerichtet. »Aber du musst so eine Frau doch irgendwann einmal gesehen haben, um sie zu zeichnen.«
»Maril hat mir von seiner Schwester erzählt! Und ich habe mir gedacht, dass sie vielleicht so aussieht.«
Rita nickte geistesabwesend.
»Was ist los?« Balthasar war ihre Beunruhigung nicht entgangen, doch seine samtige Stimme erreichte sie nicht, so gedankenverloren starrte sie auf Aurelias Bild. Er stand auf, beugte sich zu ihr und nahm ihre Hand, um sie leicht zu drücken, und kurz gelang es ihm tatsächlich, sie abzulenken; kurz gab sie sich dieser Vertraulichkeit hin, ehe sie sich rasch losmachte.
»Nicht!«, rief sie. »Ich habe mir die Hände doch gerade mit Butter eingerieben.«
Sie mochte Balthasar von ganzem Herzen, sie war gerne mit ihm zusammen, erzählte ihm von ihren Stoffen, ließ sich beruhigen, wenn irgendwelche Ängste sie verfolgten. Doch seine Berührungen scheute sie nach wie vor. Wärme stieg dann zwar in ihr hoch, aber auch Erinnerungen – Erinnerungen an die Zeit, da sie Jerónimo geliebt hatte.
Sie unterdrückte sie mit aller Macht, und als ihr Blick wieder auf Aurelias Bild fiel, versuchte sie, auch das zu unterdrücken: die Trauer und Bestürzung, die bei seinem Anblick in ihr hochstiegen.
Denn die Frau auf dem Bild, das Aurelia gemalt hatte, sah aus wie ihre Großmutter.
Emilia ließ ihren Blick über die Estancia schweifen. Gestern, als die übrigen Bewohner bereits gemütlich beisammensaßen, hatte sie noch bis spät in die Nacht gearbeitet. Und während die anderen nun noch schliefen, hatte sie sich schon beim ersten Dämmerlicht wieder erhoben. Noch war dieses Licht kaum mehr als ein bläuliches Flackern, das nahezu vergebens gegen die Nacht ankämpfte.
Vor Müdigkeit schmerzten ihre Glieder, aber sie hatte einfach keinen Schlaf mehr gefunden, und wie immer wurde alle Mühsal erträglich, wenn sie stolz darauf blickte, was sie hier erreicht hatte.
Im letzten Jahr hatte sie noch mehr Böcke gekauft und vielen Lämmern auf die Welt geholfen; sie handelte mit Fleisch und Wolle und seit kurzem mit Ritas Stoffen und Leder. Gewiss – viele andere Estancieros konnten auf mehr Besitz und Schafe verweisen, vor allem die großen Kompagnien der Engländer. Doch unter den kleineren Familienbetrieben, auf denen die Besitzer alle Arbeiten selbst ausführten, machte sie den meisten Gewinn und bewies somit täglich, dass für die, die genügend
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