Jenseits von Feuerland: Roman
nach einer solchen Mutter gesehnt, aber nie eine solche gehabt hatte? Oder weil sie womöglich nie so sein würde – so zufrieden mit sich und ihrem Leben, versöhnt mit allen Schicksalsschlägen?
Emilia versuchte, nicht darüber nachzudenken, und wandte sich wieder Cornelius zu. Kurz entstand jenes peinliche Schweigen, vor dem sie sich immer am meisten gefürchtet hatte, Zeichen der Unfähigkeit, ihn auszusprechen – Gretas Namen oder gar den von Viktor. Es war das eine, sich zu umarmen – etwas anderes, an der Vergangenheit zu rühren, und noch schienen sie beide nicht dazu bereit. Doch dann überbrückte Cornelius rasch das Unbehagen, indem er Fragen zu ihrer Estancia stellte: wie viele Schafe sie besaß, wie sie sie – vor allem im Winter – fütterten, welche Rassen in der Pampa überhaupt leben könnten, wie sie diese feine Wolle produzierten.
Elisa lachte. »Jetzt lass uns doch erst mal in Ruhe ankommen.«
Emilia wies in Richtung Haus. »Wenn ihr tatsächlich die ganze Nacht unterwegs ward, müsst ihr schrecklich müde sein! Kommt hinein! Ich werde gleich Mate-Tee aufsetzen …« Vage erinnerte sie sich daran, dass auch Pedro eingetroffen war, der gewiss hungrig war und sie mit Elisa und Cornelius im Patio allein gelassen hatte.
Gott sei Dank hatte sich Ana bereits darum gekümmert, seinen leeren Magen zu füllen. Anders als Emilia hasste sie es, zu kochen, aber sie hatte ein Omelett aus Eiern zubereitet und Brot aufgeschnitten. Als die Besucher das Haus betraten, musterte Ana sie interessiert, hielt ihre Fragen jedoch zurück. Maril – stolz und ausdruckslos – schwieg natürlich auch. Nur Aurelia konnte ihre Neugierde nicht bezwingen. Nachdem sie zuerst Elisa, dann Cornelius unverwandt gemustert hatte, fragte sie fordernd: »Wer ist das?«
»Das ist mein Vater«, erklärte Emilia. Sie wunderte sich darüber und freute sich zugleich, dass dieses Wort ihr weiterhin so leicht über die Lippen kam. »Und das ist … das ist Aurelia … Quidels Enkeltochter«, fügte sie hinzu.
Erst als sie vom Winkel der Stube, in dem sich Ritas Spinnrad befand, einen entsetzten Aufschrei hörte, ging ihr auf, wie vorschnell sie gesprochen hatte. Rita wollte nicht, dass irgendjemand Aurelia gegenüber von ihrer Herkunft sprach – und bis jetzt hatte Emilia diesen Wunsch immer respektiert. Doch es wäre ihr widersinnig erschienen, vor Cornelius Quidels Namen zu verschweigen – er war schließlich nicht nur Ritas Vater, sondern auch ein alter Freund von ihm.
Also trat Emilia entschlossen auf die schreckerstarrte Rita zu, zog sie vom Spinnrad hoch und schob sie in Cornelius’ Richtung. Wenn sie selbst heute der Vergangenheit ins Gesicht sehen musste – dann konnte die Freundin es auch.
»Und das ist Rita, Quidels Tochter«, stellt sie sie vor. Sie fühlte, wie Rita zurückweichen wollte, aber da war Cornelius schon auf sie zugetreten, nahm sie an den Schultern und betrachtete sie eindringlich und mit feucht glänzenden Augen. Scheu blickte Rita hoch und konnte schließlich nicht anders, als seine herzliche Begrüßung zu erwidern.
Emilia wandte sich ab und setzte rasch Porridge auf, um ihren aufgeregten Herzschlag ein wenig zu beruhigen. Sie verstand nicht, was die beiden miteinander murmelten, ahnte nur, dass Rita die Fragen beantwortete, die Cornelius ihr stellte, und dass für Rita die Begegnung mit ihm vielleicht ebenso heilsam war wie für sie selbst.
Nach dem Porridge machte Emilia frischen Mate-Tee, und als sie kochendes Wasser in die Blechnäpfe goss, trat Elisa zu ihr. Maril und Ana hatten die Stube verlassen, Pedro und Aurelia waren ihnen gefolgt, Balthasar – den Emilia heute noch gar nicht gesehen hatte – schien sich einem kaputten Stalltor zu widmen. Auf diesen Moment der Ruhe hatte Elisa offenbar gewartet, um einige Worte unter vier Augen mit ihr zu wechseln.
»Cornelius hat lange nicht gewagt, dich zu besuchen«, sagte sie leise. »Er dachte, du könntest ihm nicht verzeihen, dass er dich belogen hat.«
Emilia fuhr herum und blickte sie entsetzt an. »Ich? Ihm nicht verzeihen?« Nie war ihr der Gedanke gekommen, dass sich ihre Flucht auch so deuten ließ – als Akt der Wut auf einen Mann, der ihr die Wahrheit über ihr Leben vorenthalten hatte. »Ich … ich bin doch nur gegangen, weil ich mich so geschämt habe und …«
»Lieber Himmel, wofür hast du dich denn geschämt?«, fiel Elisa ihr ins Wort.
»Du weißt schon, weil … weil …« Sie wollte »meine Mutter«
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