Jenseits von Feuerland: Roman
Jerónimos Augen: »Von wegen ihr Kind! Es war das Kind von Esteban Ayarza, ich persönlich kann es bezeugen! Sie hat es ihm einfach gestohlen und ihm über Jahre jeglichen Kontakt verwehrt. Wir mussten es an uns bringen, damit es zu einer Spanierin erzogen wird – nicht zu einer verfluchten Rothaut.«
Rita fühlte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. In dem Augenblick, als sie Esteban erschossen hatte, hatte sie nichts gefühlt als Kraft, unendliche Kraft, den Willen, ihn zu besiegen, und das Wissen, dass sie es konnte. Nun fühlte sie, wie ihre Knie zitterten. Sie machte den Mund auf, wollte wieder etwas sagen, aber es kam nichts heraus.
Balthasar schrie an ihrer Stelle: »Du Verfluchter!«, und stürzte hinkend auf Jerónimo zu.
Er kam nicht weit. Ehe er ihn mit erhobener Faust erreicht hatte, packten ihn zwei der Polizisten und zerrten ihn zurück. »Du Verfluchter!«, schrie Balthasar dennoch weiter. »Du verleumdest meine Frau nicht!«
»Das ist nur ein Ausländer«, rief Jerónimo verächtlich, »hört nicht auf ihn! Ich hingegen bin Chilene und obendrein der Sohn des ehrenwerten Reeders Felipe Callisto. Diese Frau«, er hob die Hand und deutete anklagend auf Rita, »diese Rothaut hat einen ehrenwerten Bürger von Punta Arenas erschossen, weil sie ihm sein Kind rauben wollte.«
»Halt endlich dein Maul!«, brüllte Balthasar.
Der Offizier, der die Truppe angeführt hatte, achtete nicht auf ihn.
Eine Weile ging sein Blick von einem zum anderen, blieb schließlich bei Rita hängen. »Das muss vor Gericht geklärt werden«, stellte er fest.
»So ist es!«, höhnte Jerónimo. »Diese Frau hat den Galgen verdient.«
Rita sah, wie Balthasar verbissen gegen die beiden Männer kämpfte, die ihn festhielten, jedoch keine Chance gegen sie hatte. Endlich konnte sie sich aus ihrer Starre lösen. Sie umschritt den toten Esteban, ging auf Balthasar zu, legte ihm die Hand auf die Brust.
»Bitte«, flüsterte sie heiser, »bitte, beruhige dich! Um Aurelias willen! Bring sie nach Hause und kümmere dich um sie. Es wird … es wird alles gut werden.«
Sie wählte genau die Worte, mit denen er sie in den letzten Wochen stets zu beschwichtigen versucht hatte, aber sie konnte ihm nicht in die Augen schauen. Sie wusste, dass sie log, und er wusste es auch. Sie hielt den Blick auch dann noch gesenkt, als einer der Polizisten sie von ihm wegzerrte. Obwohl sie sich nicht wehrte, wurden ihr die Hände so fest zusammengebunden, dass sämtliches Blut aus ihren Fingern zu schwinden schien. Roh schliff man sie zu einem der Pferde, die vor der Höhle warteten. Sie rang sich ein Lächeln ab, als sie Aurelias Blick suchte. »Mach dir keine Sorgen! Balthasar und Ana werden sich um dich kümmern!«
Endlich hatte Balthasar seine Fassung wiedergefunden, trat nun zu dem schreckerstarrten Kind, das aufgehört hatte zu weinen, und drückte es an sich.
An seiner statt begann nun Pedro zu fluchen, doch Rita hörte nicht mehr, was genau er schrie, denn eben wurde sie auf ein Pferd geworfen. So beschämend es war, wie eine Mörderin behandelt zu werden – zugleich war sie erleichtert, dass sie weder Jerónimos triumphierendem Lächeln noch Agustinas fassungslosem Blick länger ausgesetzt war.
36. Kapitel
S osehr Emilia den grauen Himmel und den Nieselregen der ersten Tage verwünscht hatte – beides war bei weitem nicht so unerträglich wie die Hamburger Hitze, die sich im August wie eine dicke Wolke über alles und jeden ausbreitete. Auch in Punta Arenas oder auf der Estancia brannte manchmal die Sonne herab, aber der Wind hatte stets Abkühlung versprochen. Hier hingegen stand die Luft zum Schneiden dick, und in den Straßen hing übler Geruch.
Dass die Stadt hinter der prachtvollen Fassade ungemein dreckig war, wusste sie bereits – jetzt hatte sie oft den Eindruck, in einer riesigen Kloake zu leben. In der Nähe der Droschkenstände und der Pferdeomnibusse lagen große Haufen von Pferdemist auf der Straße, die niemand wegschaffte. Im Hafengebiet stanken Pissoirs zum Himmel, und die Elbe verkam zu einer grünen, dicken Brühe. Viele Gebäude waren nicht an die Kanalisation angeschlossen, und die Plumpsklos wurden von Tausenden Fliegen umsurrt. Arthur hatte irgendwann einmal damit geprahlt, dass die Hamburger Stadtverwaltung regelmäßig Abfuhrwagen durch die Straßen schicken würde, um den Unrat zu beseitigen – anders als in Punta Arenas, wo er auf den Straßen verrottete –, doch in diesen Wochen sah Emilia nur einen
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