Jenseits von Feuerland: Roman
sich. Nicht nur davon entströmte übler Gestank – obendrein hatte er sich in die Hose gemacht.
Wieder ertönte ein Schrei – diesmal eindeutig aus Hellas Mund. Eben noch hatte sie sich über den jungen Schauspieler gebeugt, nun wich sie entsetzt zurück. Ihre Gesten fielen stets theatralisch und dramatisch aus, aber jetzt stand nackte Furcht in ihren Augen, und diese war keine Übertreibung.
Gleiche Furcht erfasste auch die Zuschauer, die sich nicht länger Richtung Bühne drängen, sondern alle gleichzeitig auf die verschlossenen Türen zurannten, manch einer so schnell, dass er den Vordermann niederstieß und über ihn trampelte. Irgendwer brüllte »keine Panik!«, doch niemand hörte auf ihn – genauso wenig wie auf Paolo, der mit kümmerlichem Stimmchen nach einem Arzt rief. Als einer der wenigen war er beim Unglücklichen hocken geblieben.
»Sieh zu, dass du ihm nicht zu nahe kommst!«, schrie Hella ihn an.
»Was ist denn los?«, fragte Emilia verständnislos. »Was hat der Arme denn?«
Die Panik, die alle anderen ergriffen hatte, war ihr fremd. Gerne wäre sie auf den Mann zugetreten, um ihm den Mund abzuwischen und frisches Wasser zu geben, doch Natascha hielt sie zurück.
»Weißt du es denn nicht? Seit Frühling geht sie in Russland um. Preußen hat längst die Grenzen geschlossen. Und die Russen, die über Hamburg nach Amerika auswandern wollten, wurden in versiegelte Sonderzüge gesperrt!«
»Seit Frühling geht wer um?«, fragte Emilia nach wie vor verständnislos.
Der Unglückliche erbrach sich nicht wieder, schien aber nun an heftigen Leibeskrämpfen zu leiden. Laut klapperten seine Zähne aufeinander.
»Ich habe schon gehört, dass es erste Fälle hier geben sollte«, klagte Hella und schlug ihre Hände über dem Kopf zusammen. »Aber ich habe es nicht ernst genommen. Schließlich haben der Medizinalrat Kraus und Senator Hachmann behauptet, es sei nur ein normales Fieber.«
»Erste Fälle von was?«, fragte Emilia ungeduldig.
»Wir müssen ihn hier fortschaffen«, erklärte Paolo, »sonst steckt er uns alle an.«
»Willst du ihn etwa anfassen?«, herrschte Hella ihn an.
»In jedem Fall müssen wir einen Krankenwagen rufen«, schaltete sich Natascha ein.
»Ich helfe gerne, ihn in ein Krankenhaus zu bringen«, meinte Emilia – das hysterische Stimmengewirr setzte ihr nicht minder zu wie die Hitze, »aber irgendjemand sagt mir jetzt gefälligst, an welcher Krankheit dieser arme Mann leidet.«
Natascha blickte sie nur mit schreckgeweiteten Augen an. Paolo hüstelte hinter vorgehaltener Hand, nur Hella erklärte mit üblicher Dramatik: »Ich bin kein Arzt! Aber ich verwette mein Varieté darauf, dass uns die Cholera heimsucht.«
Erst lange nach Mitternacht kamen sie im Krankenhaus an. Stundenlang hatten sie auf einen Krankenwagen warten müssen – es gab zu wenige davon, lediglich vier Personen fanden darin Platz, und eigentlich war dieses Gefährt, das man »Pocken-Droschke« nannte, nicht für Cholerapatienten gedacht. Dies zumindest behauptete übellaunig der Kutscher, der sich zunächst weigern wollte, den Kranken überhaupt mitzunehmen. Da dieser sich nicht mehr erbrach, ließ er sich schließlich doch erweichen, aber damit begann die eigentliche Irrfahrt erst. Fast zwei Stunden währte die Fahrt zum Allgemeinen Krankenhaus in Eppendorf, und dort angekommen, hieß es, es sei bereits überfüllt – von anderen Kranken mit ähnlichen Symptomen nämlich. Das Wort »Cholera« wollte anders als Hella noch niemand in den Mund nehmen. So machte sich die Krankendroschke wieder auf den Weg, um nach zwei weiteren Stunden im Alten Krankenhaus von Sanct Georg vorzufahren. Die Laune des Kutschers hatte sich, so das denn überhaupt möglich war, noch verschlechtert. Wortlos setzte er den Kranken vor dem Krankenhaus ab, ohne sich zu kümmern, was aus ihm wurde. Emilia, die dem Unglücklichen während der Fahrt immer wieder den kalten Schweiß von der Stirn gewischt hatte, blickte sich ratlos um. Alle Ärzte und Pfleger, die sie zu Hilfe rief, waren beschäftigt, so dass sie nichts anderes tun konnte, als sich hilflos neben den Mann zu hocken, von dem sie nicht einmal den Namen wusste.
Die Cholera hatte nicht den gleichen Schrecken für sie wie für die anderen. Zwar hatte sie schon von ähnlichen Epidemien in Chile gehört, aber Patagonien war stets davon verschont geblieben, und sie hatte selbst noch nie jemanden daran sterben gesehen. Dass es ein qualvoller Tod sein konnte, erfuhr
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