Jenseits von Feuerland: Roman
einzigen, und der fuhr nur die Hauptstraße entlang. Zu allem Übel hielten sich viele Bewohner der Stadt Tiere in ihrem Hinterhof, Geflügel, Kühe und sogar Schweine. Gewiss war das ein probates Mittel, das Einkommen aufzubessern und den täglichen Speiseplan zu erweitern, doch wenn Emilia durch manche Straßen ging, hatte sie den Eindruck, Ställe zu passieren, keine Wohnhäuser – wobei diese Ställe in einem verdreckten, stinkenden Zustand waren, den sie auf der Estancia niemals geduldet hätte. Und so viele Ratten huschten an ihr vorbei! Ein Glück nur, dass die Nager vor allem von den Warenspeichern und Lagerhäusern angezogen wurden und das Varieté verschonten. Dort hatten sie stattdessen mit jeder Menge Ungeziefer zu kämpfen – Kakerlaken und Feuerwürmer, selbst Wanzen, die sich am liebsten in den Betten verkrochen.
Emilia teilte sich ein Zimmer mit drei der Tänzerinnen, doch nun wurde es ihr zur Gewohnheit, dass sie noch vor der Morgendämmerung daraus floh. Überall im Varieté war es heiß, aber am ehesten ließ es sich noch im Theatersaal aushalten, schlichtweg, weil es der größte Raum war. Die Kühle hatte allerdings ihren Preis. Dick hing hier der Rauch von Zigarren und Pfeifen, denn anders als in den großen Häusern der Innenstadt – dem Stadt- oder Thalia-Theater – durfte in Sanct Pauli während der Vorstellungen geraucht werden.
Wenn es ihr doch gelang, auf einer der Bänke zu schlafen, erwachte sie schon wenig später – meist mit Kopfschmerzen und Übelkeit. Schon in den drei Monaten seit der Ankunft hatte ihr der gute Appetit gefehlt, doch nun nahmen Erschöpfung und Müdigkeit so überhand, dass sie oft würgen musste, wenn ihr bloß der Geruch von Fleisch in die Nase stieg.
»Kein Wunder, dass dir davor graut«, meinte Hella, als sie einmal kopfschüttelnd auf ihren ausgezehrten Leib blickte. »Dieses Hackfleisch hier ist längst nicht mehr frisch. Der Metzger hat es nur mit Cochenillefarbe gefärbt, damit es so aussieht.« Ihrem eigenen Appetit tat dies natürlich keinen Abbruch.
Eines Morgens war es besonders schlimm. Emilia trat vor das Varieté, um die übliche Milchlieferung abzupassen. Von Haus zu Haus wurde diese gebracht – in rotbemalten Holzeimern oder auf Hundekarren. Wenn sie den Eimer in Empfang nahm, trank sie oft gleich einen Schluck zur Stärkung, doch als sie sich heute darüberbeugte, glaubte sie an dem süßlichen Geruch zu ersticken. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, schluckte gegen den Drang, sich zu übergeben, an und brachte die Milch hastig in die Küche, um den übrigen Tag lang einen großen Bogen um sie zu machen. Wahrscheinlich war die Qualität der Milch so schlecht wie die des Fleisches, von dem Hella gesprochen hatte, und es war auch keine reine Milch, sondern mit Kalk oder Gips verdickte.
Immerhin ließ die Übelkeit im Laufe des Vormittags nach, und sie fühlte sich stark genug, um nicht nur wie üblich zu kochen, sondern beim Bühnenbild und den Kostümen zu helfen. An ihrer statt begann Bruno zu kränkeln. Der Bajazzo war schrecklich bleich, hielt sich seinen Magen, der von Krämpfen geplagt wurde, und sah sich außerstande, die tägliche Ansage zu machen. Paolo musste für ihn einspringen, was der allerdings mit solch griesgrämiger Miene tat – wie konnte man ihn auch nur vom Klavierspielen abhalten! –, dass er mehr Gäste vertrieb als anzog.
»Treten Sie ein«, murmelte er beleidigt und lustlos und mit überaus dünnem Stimmchen. »Kommen Sie in die fröhliche Welt des Amüsements bei Licht und Mondschein. Die Kasse ist geöffnet. Kinder, Invalide und Rentner zahlen heute nur die Hälfte! Bald begibt sich die Truppe auf die Bühne, der Vorhang wird sich heben. Dann geht es Schlag auf Schlag mit Attraktionen, Sensationen, Menschlichem aus dem Leben in Sanct Pauli!«
Hella sah ihm eine Weile zu, dann schimpfte sie wie ein Rohrspatz auf ihn ein: »Kannst du noch freudloser bei der Arbeit sein?«
Paolo zuckte nur die Schultern, Schweiß stand auf der Stirn.
»Die Hitze macht uns zu schaffen – na und?«, nörgelte Hella. »Dann gilt es eben, die Zähne zusammenzubeißen!«
Später half Emilia beim Kartenverkauf, der unerwartet gut ausfiel – was allerdings weniger an Paolos Ansage lag als an dem für heute zu erwartenden Spektakel.
Viele Jahrzehnte war es her, dennoch erzählte man sich diese Geschichte immer noch: wie sich nämlich im Jahr 1810 ein wildgewordener Bulle in Altona losgerissen hatte und durch die
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