Jenseits von Feuerland: Roman
Vorstadt Sanct Pauli gerannt war. Dort war er in ein Wirtshaus geraten und hatte sämtliches Inventar zerschlagen. Unter der Leitung eines Konstablers hatten schließlich Soldaten das Etablissement gestürmt und das wilde Tier mit Gewehrschüssen und Säbelhieben getötet.
Genau diese Szene sollte heute Abend – begleitet von Gesang und Klavier – nachgespielt werden, wobei ein junger Schauspieler den Bullen mimen sollte.
»In dem warmen Kostüm gehe ich heute zugrunde!«, erklärte der seufzend, aber anders als Bruno entzog er sich nicht seinen Pflichten, sondern tat alles, um Hella nicht zu enttäuschen.
Wie immer vor der Vorstellung ging Emilia mit Getränken und belegten Broten durch die Reihen, um diese als kleine Stärkung und Erfrischung zu verkaufen. Im Publikum saßen außergewöhnlich viele Matrosen – was wohl daran lag, wie Natascha meinte, dass heute jede Menge Schiffe angelegt hatten. Bei ihrem Anblick wurde Emilia kurz wehmütig und dachte an die lange Reise von Punta Arenas nach Hamburg, als noch alles gut gewesen war zwischen ihr und Arthur, und als die Hitze in der Nähe des Äquators, die engen Kojen und die Stürme, kaum dass sie nördlichere Breitengrade erreichten, ihrem Glück nichts hatten anhaben können.
Natascha entging ihr weggetretener Gesichtsausdruck wohl nicht. »Denkst du an Chile?«, fragte sie. »Wirst du wieder dorthin zurückkehren? Obwohl du doch jetzt zu uns gehörst!«
Emilia zuckte die Schultern. Sie sparte eisern den Lohn, den sie von Hella bekam, und sehnte sich nach der Einsamkeit der Steppe, ja selbst nach dem Wind, aber zugleich kam es ihr so aberwitzig vor, dass sie nun lebte wie einst in Punta Arenas – einzig darauf bedacht, möglichst viel Geld zu verdienen: Damals hatte sie unbedingt nach Deutschland gehen wollen – jetzt wollte sie wieder zurück. Konnte ein Scheitern noch schmählicher ausfallen? Würde sich ihr Leben ewig im Kreis drehen und stetig zum Ausgangspunkt zurückkehren? Was war es, was sie wirklich wollte?
Sie drängte sich am Publikum vorbei, sah und hörte es jedoch kaum. Was für eine Närrin sie doch war!, ging es ihr durch den Kopf. Jahrelang hatte sie um Manuel getrauert, bis sich herausgestellt hatte, dass er zwar der Gefährte ihrer Kindheit war, aber nicht der Mann, den sie liebte. Und nicht minder lange hatte sie von Deutschland geträumt, das sich nun als entweder zu verregnet oder zu heiß erwies, in jedem Fall aber schmutzig und eng war. Ihre Liebe zu Arthur hatte sie sich schließlich eingestanden – doch dieser Schuft verdiente sie gar nicht, ließ folglich ins Leere verpuffen, was sie sich so mühsam abgerungen hatte!
Verärgert schüttelte sie den Kopf und verkaufte schnell die restlichen Brote. Noch war der Vorhang geschlossen, und die Zuschauer begannen langsam unruhig zu werden. Keiner hatte mehr Lust auf eine Erfrischung – das Spektakel sollte endlich beginnen! Doch der Vorhang blieb weiterhin geschlossen. Erste Buhrufe ertönten, schwollen an; schließlich wurde unruhig mit den Füßen getrampelt. Emilia kümmerte sich nicht darum und wollte den Saal schon verlassen, als auf der Bühne plötzlich ein Aufschrei erklang, schrill und verzweifelt. Emilia war sich nicht sicher, aus welcher Kehle er stammte – sie traute nicht nur Hella und Natascha zu, so zu schreien, sondern auch einem dürren Männchen wie Paolo. In jedem Fall erschreckte dieser Schrei nicht nur sie, sondern auch das Publikum, das alarmiert aufgesprungen war und zur Bühne drängte. Einige der Matrosen hatten sie als Erste gestürmt und rissen den roten Samtvorhang zur Seite. Emilia war ihnen gefolgt – weniger willentlich als von den Massen mitgerissen – und erkannte, was nun auch im Saal zu entsetzten Schreien führte: Offenbar hatten sich vorhin alle Beteiligten am heutigen Schauspiel auf ihre Position begeben. Doch bevor der Vorhang gelüftet werden konnte, war der junge Schauspieler, der in das Kostüm des wilden Bullen geschlüpft war, zusammengebrochen. Hella hatte es wohl auf die drückende Hitze zurückgeführt und geglaubt, es genüge, ihm die Maske und den dicken Stoff von Gesicht und Leib zu ziehen, doch der junge Mann war darunter alles andere als rot und verschwitzt von der Wärme. Vielmehr klapperten seine Zähne vor Kälte, und kalt war auch der Schweiß, der auf seinem Gesicht stand. Dieses schimmerte irgendwie bläulich, und in dem Augenblick, als Emilia die Bühne erreichte, drehte er seinen Kopf zur Seite und erbrach
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