Jenseits von Feuerland: Roman
einem größeren Ort einige Stunden von ihrer Siedlung entfernt, wo er frische Butter verkauft hatte, und wie immer waren ihm auf dem Rückweg viele Ideen eingefallen, wie er den Handel mit Milchprodukten und Fleisch verbessern und noch mehr Geld verdienen könnte.
Emilia war erleichtert, dass er so viel redete und ihm deshalb entging, wie blass sie war, wie angespannt und zittrig. Einzig, dass sie ihm fortwährend den Weg ins Haus versperrte, irritierte ihn dann doch.
»Gibt es einen Grund, warum du hier draußen auf mich gewartet hast?«, fragte er verwirrt.
»Können wir in den Wald gehen?«, gab sie nur zurück.
»Was ist denn passiert?«
Sein Blick wurde wacher. Bis jetzt war es ihr gelungen, an ihm vorbeizusehen, nun blickte sie ihm in die Augen und hatte das Gefühl, die Liebe nicht ertragen zu können, die sie für ihn empfand. Manchmal hatte es sie gekränkt, dass er ständig über seine Geschäfte sprach und damit den Anschein gab, dass es wichtiger war, reich als mit ihr glücklich zu werden. Doch in diesem Augenblick dachte sie nicht daran, dachte nur, dass Manuel ihr immer alles gewesen war – der Spielkamerad von Kindesbeinen an, der Vertraute, mit dem sie über seine gleichaltrigen Cousinen lästern konnte, der Verbündete gegen die strenge Großmutter. Er war der Mann, der sie als Erster geküsst hatte – einst in einer Lichtung im Wald –, und der Mann, mit dem sie das bislang größte Abenteuer ihres Lebens bestanden hatte: die Reise nach Valparaíso. Er war ihr Beschützer und gleichzeitig ein kleines, freches Kind, das sie oft einer strengen Mutter gleich maßregeln musste. Wie sollte sie auch nur einen Tag ohne ihn leben?
»Also, was ist passiert?«
Kurz lag es ihr auf der Zunge, ihm alles zu erzählen, und die Entscheidung, wie sie mit dem schrecklichen Wissen um ihre Herkunft weiterleben sollten, ihm zu überlassen. Doch stattdessen packte sie ihn am Arm und zog ihn mit sich Richtung Wald. Er folgte ihr ungewohnt schweigend. Dass sie so bestimmt, so fordernd vor ihm herschritt, ließ all seine Fragen verstummen. Ein zweites Mal an diesem Tag übertrat sie die Rodungsgrenze. Zielstrebig führte sie Manuel zu jener Lichtung, wo sie schon früher so viel Zeit verbracht hatten, wo sie sich zum ersten Mal geküsst hatten und wo er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle.
Erst dort blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. Sie wagte kein weiteres Mal, ihm in die Augen zu sehen, sondern schloss hastig die ihren, neigte sich vor und küsste ihn auf den Mund. Nie hatte sie es so gierig, so verlangend getan.
Die ersten Küsse, die sie getauscht hatten, waren immer etwas unsicher gewesen und hatten sie verlegen gemacht. Lange hatte sie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, nicht abschütteln können, und das Erregende an diesen Küssen lag vor allem am Nervenkitzel, nicht an der Lust an seiner Nähe. Später war es selbstverständlicher geworden, Manuel zu küssen; der Geschmack seiner Lippen, seiner Zunge war ihr vertraut geworden, der feste Griff, mit dem er sie an sich drückte, während sie durch sein Haar fuhr, in dem immer irgendein Zweiglein hing, sein muskulöser Körper, wenn er sich an ihren presste. Doch nie hatte sie ihn so voller Sehnsucht geküsst wie heute Abend, nie hatte sie das Gefühl gehabt, sie müsse sich an seinen Leib förmlich festkrallen und dürfte ihn nie wieder loslassen. Sie vergaß beinahe zu atmen.
Nach einer Weile löste er sich mit einem Ausdruck der Verwirrung. »Hast du mich so sehr vermisst?«, fragte er halb spöttisch, halb liebevoll. »Diesmal war ich doch nur einen Tag fort.«
»Halt mich fest!«
Er runzelte seine Stirn ob ihres verzweifelten Untertons, doch dann hielt er sie, küsste sie, strich ihr über das Haar. Tränen stiegen in ihr hoch, aber sie schluckte sie mit aller Macht herunter. Morgen konnte sie weinen, morgen, wenn sie fortgehen würde, wenn das Leben, wie sie es kannte, ein für alle Mal vorbei war. Morgen würden Kummer und Schmerz sie fast wahnsinnig werden lassen, und selbst wenn sie beides überleben würde, würde sie doch nie wieder die Alte sein, die sorglose, unschuldige, fröhliche Emilia.
Aber jetzt war dieses Morgen noch nicht angebrochen. Wenigstens ein paar Stunden wollte sie dem Schicksal abringen – Stunden, in denen sie vergessen wollte, dass ihr ganzes Leben auf eine Lüge gebaut, ihr Vater nicht ihr Vater und dass sie aus Inzest und Gewalt hervorgegangen war. Stunden, in denen sie mit Manuel zusammen
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