Jenseits von Feuerland: Roman
Himmel!«
Sie stürmte wieder nach unten, stolperte beinahe über eine Stufe. »Emilia! Rita!«
Als sie die Stube erreichte, stieß sie beinahe mit Manuel zusammen.
»Manuel, hast du …«
Die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Gestern Abend, als er und Emilia von einem Spaziergang im Wald zurückgekehrt waren, hatten seine Augen geleuchtet, und seine Wangen waren errötet gewesen. Er hatte noch mehr und noch schneller gesprochen als sonst. Nun aber war er leichenblass, der Blick starr und die Stirn gerunzelt.
Erst jetzt sah sie, was er in den Händen hielt.
Einen Brief.
»Weißt du, was das bedeutet?« Er schrie sie beinahe an.
Mit zitternden Händen griff Annelie nach dem Bogen Papier und überflog die Zeilen. Sie hatte Emilias Handschrift sofort erkannt, spitz und akkurat. Nur wenige Worte hatte sie geschrieben, und für Manuel mussten sie verwirrend klingen, so voller rätselhafter Andeutungen, die Emilia nicht ausführte. Doch Annelie begriff sofort.
Ihre Hand fuhr zu ihrem Herzen, das sich plötzlich hart und kalt wie ein Stein anfühlte. Das Blut sackte in ihre Beine.
»Mein Gott!«, stieß sie aus.
Wie sollte sie das nur Elisa erklären? Und Cornelius?
»Sie kann doch nicht einfach gehen!«, schrie Manuel auf, nicht länger wütend, sondern verzweifelt. Er wirkte wie ein kleines Kind, nicht länger wie ein tatkräftiger Mann. »Warum verlässt sie mich? Warum verlässt sie uns alle? Es ist doch nicht möglich …«
»Das ist … das ist eine lange Geschichte …«, stammelte Annelie hilflos. Dann zog sie ihn an sich, um es ihm zu erklären – und um ihn zu trösten.
6. Kapitel
A ls sie in der Nacht die Siedlung verließen, kostete es Rita große Überwindung, aus den schützenden Wänden des Hauses in die Dunkelheit zu treten. Nur mühsam überwand sie ihre Angst, indem sie sich immer wieder sagte, dass sie schließlich zwei Tage allein in der Wildnis herumgeirrt war und auch das überlebt hatte. Anders als sie fürchtete Emilia die Dunkelheit nicht. Wie traumwandlerisch legte sie die erste Wegstrecke zurück, stur Schritt vor Schritt setzend, ohne endlich zu erklären, was sie zu der überhasteten Flucht bewog. Wenn Rita ihr einen vorsichtigen Seitenblick zuwarf, wich die Angst vor der schwarzen Nacht der Sorge um die Freundin. Wie sollte sie ihr nur helfen, so totenbleich und erstarrt, wie sie war? Und wenn sie nun für immer in diesem in sich gekehrten Zustand blieb und nie wieder redete?
Ihr nicht zu folgen wäre allerdings undenkbar gewesen, und so konzentrierte sich Rita darauf, auf den glitschigen Wegen rund um den See nicht auszurutschen und mit Emilia Schritt zu halten. Immer weiter nach Norden ging es, und erst als der Morgen graute, blieb Emilia plötzlich stehen. Ein Ruck ging durch ihren Körper, und sie schien wie aus einem dunklen Alptraum zu erwachen. Doch die nüchtern kalte Stimme, mit der sie endlich wieder zu sprechen begann, vertrieb Ritas Unbehagen nicht – im Gegenteil.
»Wir halten in Nueva Braunau«, verkündete Emilia. »Wir werden dort Pferde kaufen.«
»Hast du … hast du überhaupt Geld?«, fragte Rita.
»Mein Vater hat mir welches gegeben. Damit ich die Hochzeit ausrichten kann«, kurz wurde Emilias Stimme brüchig, aber ihr Blick blieb starr. Ihre Augen schienen im blassen Morgenlicht nicht blau, sondern so farblos wie Eis. »Und wir werden Kleider kaufen«, fügte sie hinzu.
Rita blickte sie verwundert an. »Aber wir tragen doch Kleider!«, rief sie und deutete auch auf die beiden Bündel, in die sie in der Nacht alles Notwendige eingepackt hatten.
»Ja«, meinte Emilia knapp, »aber das sind die falschen.«
Mehr erklärte sie nicht, und Rita wagte nicht, nachzufragen – ebenso wenig wie sie in den nächsten Stunden daran rührte, was Emilia an Schrecklichem widerfahren sein musste. So neugierig sie auch war, insgeheim erleichterte es sie auch, nicht zu viel zu wissen. Was Emilia derart verstörte, würde gewiss auch für sie unerträglich sein, und an dem Willen, mit ihr zu gehen, würde es ohnehin nichts ändern.
In Nueva Braunau, einer Siedlung von Österreichern aus dem Böhmerwald, die sie gegen Mittag erreichten, stellte sich heraus, welche Art von Kleidung Emilia kaufen wollte – nämlich Männerkleidung.
In dem kleinen Ort schienen viele Menschen sie zu kennen, begrüßten sie mit ihrem Namen und sprachen mit respektvoller Stimme von ihrem Vater Cornelius Suckow. Emilia lächelte höflich und erklärte dann fordernd, dass sie neue
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