Jenseits von Feuerland: Roman
würdest nicht für mich sorgen, wenn du mir nicht verziehen hättest«, murmelte er.
Emilia zog das Essigtuch rasch wieder zurück. Natürlich hatte sie ihm verziehen; während der Tage, da er mit dem Tod rang, waren sämtliche Streitigkeiten so unwichtig geworden. Sie liebte ihn, sie bekam ein Kind von ihm, und sie wollte ihr Leben mit ihm teilen. Es ihm sagen aber wollte sie nicht – noch nicht.
»Am besten, du schläfst jetzt«, knurrte sie.
Draußen auf dem Gang spürte sie, wie die Beine wackelten. Kraftlos lehnte sie sich gegen die Wand. Sie musste schlafen, sehr, sehr lange schlafen, um sich zu erholen und neue Kräfte zu sammeln, für sich selbst und für das Kind. Unwillkürlich legte sie ihre Hände um den Leib, der sich leicht wölbte. Sie hatte den eigenen Körper und seine Bedürfnisse so lange missachtet, dass sie gar nicht auf die verräterischen Zeichen geachtet hatte. Erst als Arthur im Sterben lag und sie sich gefragt hatte, wie sie ohne ihn weiterleben könnte, hatte sie es plötzlich gewusst.
In der Ferne hörte sie Stimmen von Krankenschwestern, die laut darüber sprachen, dass seit Stunden keine Kranken mehr eingeliefert worden waren. Was Nora bereits angedeutet hatte, musste also wahr sein: Die Seuche ebbte ab.
»Wir scheinen es ausgestanden zu haben«, sagte jemand.
Emilia wischte sich den Schweiß von der Stirn. Welcher Tag war heute eigentlich? Der August war wohl längst vorbei, der September vielleicht auch bald.
»Aber wir mussten einen hohen Preis zahlen für die mangelnde Hygiene«, mischte sich Noras Stimme ein. »Es heißt, dass siebzehntausend Menschen erkrankt sind und etwa die Hälfte davon gestorben ist.«
»Und den ganzen Juli hat die Stadtverwaltung schon von der drohenden Gefahr gewusst«, murrte eine der Schwestern.
»Hoffentlich ändert sich nun etwas«, sagte Nora. »Wir brauchen endlich eine Filteranlage für die tägliche Wasserversorgung! Und alle Ärzte sollten mit den Untersuchungsmethoden vertraut sein, um rechtzeitig die Diagnose Cholera stellen zu können, wenn das Übel zurückkehrt.«
Sie schien sich von den Schwestern abzuwenden, denn nun hörte Emilia ihre Schritte auf sie zukommen. Sie konnte kaum ihren Kopf heben, so müde war sie.
»Ich habe gehört, es geht ihm besser.« Nora war ein gutes Stück von ihr entfernt stehen geblieben. Die Stimme klang ausdruckslos; anders als vorhin schwang kein Mitleid mehr mit.
»Ja«, murmelte Emilia, zu kraftlos, um mehr zu sagen.
»Kommen Sie mit! Ich zeige Ihnen einen Platz, wo Sie sich ausruhen können. Sie sehen ja aus wie der Tod …«
»Aber Arthur …«
»Wenn er jetzt noch lebt, lebt er in ein paar Stunden auch noch. Ich sehe nach ihm – und nein, keine Angst, nachdem die Cholera ihn nicht geholt hat, werde auch ich ihm nichts zuleide tun.«
Die Andeutung eines Lächelns erschien auf ihren Lippen, das Emilia schwach erwiderte. Dann folgte sie Nora. Noch ehe sie recht wusste, wohin diese sie brachte, hatten sie ein Zimmer mit einer Pritsche erreicht. Emilia lag kaum darauf, als sie ihre Augen schloss und in einen tiefen Schlaf versank, in ein schwarzes, bodenloses Loch.
Sie träumte nichts; weder Geräusche noch Gerüche drangen in den Schlaf. Als sie erwachte, wusste sie nicht, wie viel Zeit vergangen war, ob nur wenige Augenblicke, mehrere Stunden oder gar Tage, nur, dass zum ersten Mal seit langem ihr Schädel nicht brummte und ihre Glieder nicht schmerzten. Sie streckte sich wohlig aus und spürte, wie ihr Magen sich vor Hunger verkrampfte. Rasch erhob sie sich, verließ den Raum und eilte zur Kantine. In den letzten Wochen hatte sie dort manchmal ausgeholfen, doch während ansonsten immer hektische Betriebsamkeit herrschte, war es nun unerwartet still. Sie war offenbar nicht die Einzige, die das Nachlassen der Flut an Kranken nutzte, um eine Pause einzulegen. Sie nahm etwas Brot und trank Wasser dazu. Immer noch vertrug sie nicht einmal den Anblick von Milch, aber sie nahm einen Becher mit – für Arthur.
Auf dem Gang begegnete sie schlafenden Schwestern. Wer jedoch keine Ruhe brauchte, war scheinbar Nora. Als Emilia Arthurs Krankensaal betrat, vernahm sie deren Stimme und blieb abwartend in der Tür stehen.
»Ich weiß genau, dass du mich in den letzten Wochen verfolgt hast«, erklärte Nora eben streng, »und ich kann ahnen, was du dir davon erhofft hast.«
»Nora …«, stöhnte Arthur.
»Nun, ich muss dich enttäuschen. Du triffst mich hier in einem Krankenhaus – nicht in den
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