Jenseits von Feuerland: Roman
kommen Sie darauf?«, fragte sie vermeintlich schroff.
»Sie sitzen hier bei ihm. Seit nunmehr zwei Tagen und Nächten schon.«
Emilia senkte ihren Blick. Sie hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren – und auch für den eigenen Körper. Sie fühlte nicht einmal mehr Müdigkeit oder Hunger, und als sie unwillkürlich zu sprechen anfing, auch keine Scham, ausgerechnet Nora diese Worte anzuvertrauen.
»Als ich heimlich die Schiffspassage gekauft und ihn in der Kajüte überrascht habe«, begann sie zu erzählen, »habe ich mir vorgemacht, dass ich mir einen alten Traum erfülle … den Traum, endlich nach Deutschland zu gehen. Aber die Wahrheit ist: Ich wollte einfach nur bei ihm sein, ganz gleich, wo. Ich habe mich immer wohl gefühlt in Patagonien – aber ich glaube, ich wäre stark genug, überall zu leben und neu anzufangen. Nur allein … allein will ich nie wieder sein. Genau betrachtet, war ich nie allein, ich hatte Rita und Ana, und doch ist es etwas anderes …« Sie brach ab, atmete tief durch. Sie ahnte, dass ihre Worte wirr klangen, zumal für Nora viele Namen fremd waren. Doch sie konnte nicht aufhören zu sprechen. »Bevor ich Arthur traf, dachte ich, dass es unmöglich wäre, jemals wieder einen Mann lieben zu können … ihn lieben zu dürfen.«
»Warum sollten Sie nicht lieben dürfen?«, fragte Nora.
Emilia seufzte wieder. »Das ist eine lange Geschichte.«
Nora ließ sich neben ihr auf der Bettkante nieder: »Erzählen Sie sie mir. Ich habe ein wenig Zeit. Heute sind fast gar keine neuen Kranken gekommen – die Seuche scheint abzuebben.«
Verwirrt blickte Emilia sie eine Weile an, doch dann fuhr sie zaghaft fort. Ihre Stimme war kaum lauter als ein Raunen. Sie wusste nicht, wem genau sie die Geschichte erzählte, ob wirklich Nora oder nicht vielmehr Arthur, sie wusste nur, dass es guttat, sich alles von der Seele zu reden: die Geschichte ihrer Eltern, ihrer Verlobung mit Manuel, ihrer Flucht, der harten Anfangsjahre in Punta Arenas. Sie sprach von dem Tag, da sie Arthur zum ersten Mal gesehen hatte und derart erbost gewesen war, weil er so aufdringlich auf ihr Dekolleté gestarrt hatte. Mit dem Anflug eines Grinsens erzählte sie von der Wette, die er mit Balthasar abgeschlossen hatte, von dem Spaß, den sie gehabt hatte, als sie sich rächte, aber auch von seinem ernsthaften Bemühen, Rita einen Arzt zu beschaffen. Damals hatte sie zum ersten Mal die Ahnung gestreift, dass er mehr war, mehr sein wollte als der eitle, selbstverliebte, oberflächliche Mann, für den das ganze Leben ein Spiel war.
Sie hörte nicht mehr auf zu sprechen. Zuletzt nahm sie Nora gar nicht mehr wahr – ihr Blick war starr auf Arthur gerichtet, als sie zugab, wie schwer es ihr trotz aller Leidenschaft gefallen war, an eine gemeinsame Zukunft zu glauben. So oft stritten sie, so oft lag diese Spannung in der Luft und machte es unmöglich, ihm ehrliche Gefühle anzuvertrauen. Dennoch – ohne ihn erschien ihr das eigene Leben ungleich leerer und sinnloser – und sie wusste, dass Gleiches auch für ihn galt.
Nachdem sie geendet hatte, senkte sich Schweigen über sie.
»Es tut mir leid«, sagte Nora schließlich.
»Was?«
»Ich habe nicht nur Sie falsch eingeschätzt, sondern auch ihn. Ich dachte nicht, dass er eine Frau lieben und dass er sich ihr verpflichtet fühlen könnte – aber das tut er wohl. Sonst wäre er nicht hierhergekommen, um die Scheidung von mir zu erbitten. Es tut mir wirklich leid.«
»Was genau tut Ihnen leid?«, fragte Emilia heiser. »Dass Sie das nicht erkannt haben?«
»Nein«, murmelte Nora, »Dass es wahrscheinlich zu spät ist.«
Emilia hatte Arthurs Hand genommen. Die Haut war trocken und kalt, als wäre er tot. Emilia drückte sie fest.
»Aber solange er noch atmet«, sagte Nora leise, »sollten Sie die Hoffnung nicht aufgeben. Und reden Sie weiter – ich habe das Gefühl, dass Ihre Stimme ihn … beruhigt.«
Nora erhob sich und verließ den Krankensaal ohne ein weiteres Wort. Kurz wusste Emilia nicht, was sie noch zu Arthur sagen sollte, was ihm erzählen, doch dann kamen die Worte wie von selbst.
»Du darfst nicht sterben, Arthur«, rief sie flehentlich, »nicht jetzt! Es war Unrecht, was du Nora angetan hast … und es war Unrecht, dass du sie mir verschwiegen hast, aber es ist nichts, was ich dir nicht verzeihen könnte. Und was zählt es noch, jetzt, … da du … da du …«
Da du sterben könntest, wollte sie sagen, aber dann war es etwas anderes,
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