Jenseits von Timbuktu
Anrede grimmig. Glühender Zorn und gleichzeitig die Angst, dass da wirklich ein Kind auf Inqaba herumlief, schnürten ihr die Kehle ab. Während ihr Ranger gehorsam unter die Brücke tauchte, arbeitete sich ihr Blick das gegenüberliegende Ufer hoch. Natürlich konnte sie aus dieser Entfernung nichts entdecken. Das Ried am Flussbettrand war viel zu dicht, als dass sich ein Elefant dort verstecken konnte, ohne dass sie ihn bemerkte. Für eine Weile beobachtete sie die Halme, suchte nach einer Bewegung, die heftiger oder anders war, als von einem Windstoà hervorgerufen, die ihr sagen würde, dass da ein Lebewesen den Flussrand entlangwanderte. Aber das grüne Meer wogte ungestört, neigte sich unter der sanften Brise und richtete sich wieder auf. Unablässig. Da war nichts. Kein Tier, kein Mensch. Frustriert beugte sie sich über den Brückenrand.
»Philani, kannst du etwas entdecken?« Sie würde dem Zulu gehörig die Leviten lesen, wenn dieser Albtraum hier vorüber war, jetzt aber brauchte sie ihn und wollte ihm nicht noch weiter zusetzen und damit riskieren, dass er deswegen Fehler machte.
Philani kam auf der anderen Seite aus dem Brückenschatten
hervorgekrochen. Seine Uniform und Schuhe waren mit Schlamm verschmiert, in seinem kurz geschnittenen Kraushaar klebten Lehm und Spinnweben. »Nichts«, sagte er. »Aber da ist jemand gewesen.« Er probierte ein vorsichtiges Lächeln.
»Was? Tatsächlich?« Aufgeregt nahm Jill ihr Gewehr von der Schulter, sprang hinunter in den Morast und stapfte zum Brückenbogen. »Zeig mir, wo.«
»Hier.« Er deutete auf einen zur Hälfte von überhängenden Zweigen verdeckten Felsvorsprung neben dem Betonsockel der Brücke, beugte sich vor und schob das Gestrüpp ungeachtet der hässlichen Dornen beiseite. Eine Aushöhlung wurde sichtbar, etwa eineinhalb Meter hoch und zwei Meter breit.
Jill spähte hinein. Asche und ein paar verkohlte Ãste markierten eine Feuerstelle, daneben lag ein zerbeulter Henkeltopf. »Volltreffer!«, murmelte sie. Dann fiel ihr etwas ein. »Kriech noch einmal hinein und sieh zu, ob du herausbekommen kannst, ob das hier das Versteck eines Kindes oder Erwachsenen ist«, befahl sie ihrem Ranger. »FuÃabdrücke und so.« Mit dem Gewehrlauf hob sie das Dornengestrüpp beiseite, und Philani kroch gehorsam noch einmal in die Höhle. Er war so groÃ, dass er sie fast ausfüllte, konnte sich kaum darin bewegen und nur schwer Luft bekommen. Aber er protestierte nicht.
»Ich sehe FuÃabdrücke«, ächzte er. »Ziemlich kleine ⦠von nackten FüÃen â¦Â«
Jills Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Offenbar waren sie tatsächlich auf das Lager dieses mysteriösen Kindes gestoÃen. »Komm raus, ich rufe Jonas an. Er soll noch ein paar Leute hierherschicken.« Als er herausgekrochen war, lieà sie die Zweige zurückfallen und zog ihr Funkgerät heraus.
Gerade als sie die Sprechtaste drücken wollte, drang plötzlich ein merkwürdiger Laut an ihre Ohren. Sie nahm den Finger von der Taste, legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete Philani, sich nicht zu rühren. Angestrengt lauschten beide in den
Busch. Nach ein paar Sekunden hörte sie es wieder, dieses Mal deutlicher.
Jemand lachte, ein hohes, keckerndes Spottgelächter.
»Hörst du es?«, hauchte sie, und der Ranger nickte. »Ein Vogel?« Jill sah ihn fragend an.
Bevor Philani antworten konnte, fuhr ein leichter Windstoà in die Höhle. Ein Schwall Gestank traf sie. Saftiger Aasgeruch von verwesendem Fleisch vermischt mit Rauch und Moder. Ihr wurde erst schlecht, dann sträubten sich ihr die Haare.
»Lena«, flüsterte sie. »Die alte Lena. Herrgott, ich hatte gehofft, sie wäre gestorben oder zumindest längst weitergezogen und würde jemand anderes heimsuchen.«
Philani schüttelte den Kopf. »Man hat sie gesehen«, sagte er nur und rollte wie ein erschrockenes Tier mit den Augen.
»Also treibt die alte Hexe hier wieder ihr Unwesen.«
Lena Kunene. Kräuterheilerin. Sangoma. Hexe. Ein verrücktes Wesen mit irrlichternden schwarzen Augen, deren Haut eingetrocknet und faltig war wie die einer Dörrpflaume. Man sprach nur im Flüsterton von ihr, die wildesten Gerüchte zogen wie Rauch durch die Ritzen der Hütten, waberten bis in die teuren Häuser der neureichen Zulus in Durban.
Weitere Kostenlose Bücher