Jenseits von Uedem
noch niedrig waren und die Bodendecker ihren Zweck noch nicht erfüllten. Handhohe Buchsbaumhecken teilten die durchgehenden Reihen in Einzel- und Doppelgräber. Ein paar Eriken bemühten sich tapfer um Farbe, sonst gab es nur Wintergestecke, bizarre Gebilde aus Tannengrün, trockenen Fruchtständen und leeren Samenhülsen. Hier und da brannte ein ewiges Licht.
Karl Menges Grab lag gleich am Wegkreuz. Die Totengräber hatten Mühe, den klobigen Grabstein aus der Verankerung zu hebeln. Ihre rhythmischen Kommandos schallten über den ganzen Friedhof. Die Bestatter standen, die Hände in den Manteltaschen und schienen es zu genießen, anderen bei der Arbeit zuzuschauen. Endlich kippte der Granitklotz.
Dr. Stein sah der Frau nach, die mit flatterndem Mantel die Treppe hinunterlief.
»Wissen Sie was?« meinte er zu Ackermann, der sich mittlerweile schon in der Diele von Susanne Holbes Appartement umschaute. »Das ist das erste Mal, daß ein Verdächtiger uns während einer Durchsuchung alleine läßt.«
»Se haben et doch gehört: die Pflicht ruft«, kicherte Ackermann, ging weiter ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank.
Stein kam ihm nach. »Haben Sie keine Sorge, daß die Dame sich aus dem Staub macht?«
»Ich hab' zwei Jungs an ihr dran«, brummte Ackermann in bester Hollywoodmanier. »Dat Vögelken will ausfliegen, soviel is' ma' klar. Kucken Se ma' hier.«
Der Kleiderschrank war so gut wie leer, nur Bettwäsche und Handtücher waren noch da, ein Wintermantel, zwei Wollkostüme, ein Stapel Nachthemden.
»Un' wat sacht uns dat?« feixte Ackermann. »Da, wo se hin will, hat se't auf alle Fälle nachts noch heiß. Aber wat hilft uns dat? Solang' ich hier nix finde, kann ich der Tante gar nix.«
»Wieso machen Sie den Job hier eigentlich alleine?« fragte Stein.
Ackermann zwinkerte treuherzig. »Personalmangel wird dat genannt. Da habt ihr wohl keine Probleme mit.«
»Weniger. Wenn Sie mir erklären, was Sie genau suchen, bin ich gern behilflich«, bot Stein an. »Ich komme mir ein bißchen dämlich vor, wenn ich nur so rumstehe, und außerdem wollte ich heute noch nach Uedem.«
»Ich auch.« Ackermann erklärte ausführlich, während er den Nachtschrank durchwühlte und einen Stapel Briefe herausnahm, der mit einem roten Seidenband verschnürt war.
»Och, kiekt es, näs frugger. Dat macht se ja fast schon wieder sympathisch.«
Das Schlafzimmer war spartanisch: weiße Wände, grauer Boden, schwarzer Schrank, ein schmales Kiefernbett, Spiegelfliesen an der Tür. Nichts Persönliches, nicht mal ein Buch auf dem Nachttisch. Der einzige Farbtupfer war ein Hochglanzplakat, mit Stecknadeln an der Wand gegenüber dem Bett befestigt - eine Luftaufnahme von Mauritius.
Im Wohnzimmer war es nicht wesentlich gemütlicher.
Stein stand vorm Bücherregal.
»Schauen Sie mal, hier fehlen eine ganze Menge Bücher. Überall Lücken, und nicht wieder zusammengeschoben.«
Aber Ackermann hörte ihn nicht. Er hatte im Schreibtisch Fotos und Briefe gefunden.
Bonhoeffer blätterte interessiert in Heinrichs' Aufzeichnungen. »Du machst mir heftig Konkurrenz, weißt du das?«
Heinrichs versuchte, nicht allzu geschmeichelt auszusehen.
»War halt immer schon mein Hobby. Also, Karl Menge bringen sie uns als ersten. Ich tippe auf Rattengift.«
»Ja«, nickte Bonhoeffer, »Thalliumsulfat, das ist mir auch in den Sinn gekommen. Aber wenn du dir mal die Krankengeschichte ansiehst - der kann auch ganz natürlich gestorben sein. Da paßt alles zusammen: durch den Diabetes waren die Nieren angegriffen, und Polyneuropathien macht der auch.
Dann diese Eintragung hier: gegen das Rheuma hat der Arzt Goldspritzen angesetzt - die können Haarausfall verursachen. Ist sogar ziemlich häufig. Deshalb hat er das Gold abgesetzt; logisch, daß der Patient wieder über Gelenkschmerzen klagt.«
»Aber all das innerhalb der letzten vierzehn Tage vor Menges Tod? Und was ist mit Übelkeit und Durchfall? Und mit den Depressionen?«
»Kann alles ganz normale Ursachen haben. Aber gut, nehmen wir an, er ist mit Thallium vergiftet worden. Die Symptome passen, Exitus nach 11 bis 17 Tagen. Ursache ist ein Nierenversagen. Thallium ist leicht zu verabreichen, man braucht nur eine geringe Dosis, und es ist völlig geschmacklos. Es wäre das perfekte Gift für jemanden mit der Vorerkrankung.«
»Eben! Ich halte die Frau für sauintelligent. Du wirst sehen, bei den anderen Toten ist das genauso.«
Bonhoeffer sah ihn besorgt an. »Ich hoffe für
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