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Jenseits

Jenseits

Titel: Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meg Cabot
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Schauspieler, wie mir plötzlich einfiel, trug ebenfalls oft Fransenschuhe. Wieso gingen mir diese bescheuerten Fransen nicht aus dem Kopf?
    »Und du könntest mir den Gefallen tun«, sprach er mit seiner Wir-sind-doch-alle-gute-Freunde-Stimme weiter, »dich einen Platz weiter nach vorn zu setzen. Ich kann nicht zulassen, dass Hannahs Stuhl einfach leer bleibt. Das würde so aussehen, als wollten wir ihr ein Denkmal setzen. Als wären wir einverstanden mit dem, was sie getan hat. Und das wollen wir doch nicht, oder?«
    Ich starrte ihn an, ihn und das Ziegenbärtchen, das er sich wachsen ließ. Ich beschloss, nach dem nächsten gerichtlich verfügten Mittagessen mit Dad seine Garderobe durchzugehen und jedes einzelne Paar Fransenschuhe zur Kleiderspende zu tragen. Auch die Pradas. Nie wieder wollte ich auch nur ein einziges Paar Männerschuhe mit Fransen daran sehen.
    »Klar, Mr. Mueller«, antwortete ich und zwang mich, dabei zu lächeln. »Ich setze mich an Hannahs altes Pult.«
    Auch wenn sie noch nicht mal vierundzwanzig Stunden tot ist und es sich anfühlt, als würden wir behaupten, sie hätte nie existiert .
    Ich stand auf und setzte mich eine Reihe weiter vorn auf Hannahs Stuhl. Es fühlte sich an, als würde ich mich in ihren Sarg legen.
    »Danke«, sagte Mr. Mueller und grinste mich erleichtert an. »Danke für dein Verständnis, Pierce.«
    Seltsam, dass er das sagte, denn genau in dem Moment, als ich mich auf Hannahs Stuhl setzte, verstand ich tatsächlich. Ich schaute hinunter auf den Diamanten unter meiner Bluse und sah, dass er sich genauso schwarz verfärbt hatte wie in dem Juweliergeschäft. Und plötzlich sah ich auch wieder die Worte, die Hannah in den Brief für Mr. Mueller geschrieben hatte. Einfach so.
    Oder vielleicht, weil ich an ihrem Pult saß, vielleicht auch wegen des Koffeins oder wegen meiner Halskette. Ich weiß es nicht. Aber mit einem Mal verstand ich es … alles.
    Okay, vielleicht nicht wirklich alles , aber ich verstand, warum mir Mr. Mueller immer so unheimlich gewesen war.
    »Und Sie …«, sagte ich und musste noch einmal heftig schlucken, »Sie wissen doch bestimmt, warum sie es getan hat. Oder nicht, Mr. Mueller?«
    Er war gerade auf dem Weg zum Lehrerpult gewesen und blieb wie angewurzelt stehen. Die Glocke hatte bereits geläutet, aber alle unterhielten sich noch und liefen im Klassenzimmer herum. Niemand sonst hatte gehört, was ich gerade gesagt hatte, oder hätte sich auch nur dafür interessiert.
    Das war es, wie mir jetzt klar wurde, als ich allmählich aus meinem Sarg hervorkroch und anfing, die Welt um mich herum mit offeneren Augen zu betrachten: Die Leute interessieren sich nicht wirklich für das, was um sie herum geschieht. Wenn überhaupt, dann tun sie nur so.
    Was auf mich natürlich mindestens genauso zutraf wie auf alle anderen.
    »Warum sie es getan hat?« Mr. Mueller drehte sich um und starrte mich mit weit aufgerissenen braunen Augen an. Er lächelte immer noch freundlich. »Nein, das weiß ich nicht. Sie war zwar eine Schülerin, die durchaus … ihre Probleme hatte …«
    Probleme . Genau. Wenn er glaubte, dass Hannah Probleme gehabt hatte, dann rannte er besser um sein Leben. Und zwar jetzt. Denn ich würde ihm Probleme machen, wie er sie noch nicht mal im Traum kannte.
    »Sie hat Ihnen doch gestern einen Brief geschrieben«, sagte ich mit unschuldigem Blick. »Ich habe ihn gesehen. Ich hab gesehen, wie Sie ihn gelesen haben.«
    Ich beobachtete Mr. Mueller ganz genau. Alles hing jetzt allein von seiner Reaktion ab.
    »Ach, das«, erwiderte er, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Da stand nichts Wichtiges drin.« Er zuckte die Achseln. »Du weißt ja, Hannah. Schreibt immer gerne lustige kleine Zettel. Ich wünschte, ich hätte geahnt, dass das ihr letzter sein würde. Dann hätte ich ihn vielleicht aufgehoben. Stattdessen habe ich ihn ins Altpapier geworfen.« Er deutete auf den blauen Mülleimer neben seinem Pult. »Nur für Papier« stand darauf. Und er war leer, wie ich von meinem Stuhl aus erkennen konnte. »Wahrscheinlich ist er mittlerweile schon auf dem Weg zur nächsten Recyclingfabrik. Tja, so ist das.«
    Dann ging er nach vorn, um die Anwesenheit zu kontrollieren. Als er zu der Stelle kam, an der er eigentlich Hannahs Namen hätte aufrufen müssen, ging er darüber hinweg, als hätte er nie auf der Liste gestanden.
    Und niemand sagte auch nur ein Wort. Nicht einmal ich. Noch nicht.

Und ich, im Ungewissen und von Schau’r

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