Jenseits
Nachmittag für meine Hausaufgaben brauchen würde. Ich wusste selbst nicht, warum ich sie nicht im Auto gelassen hatte. Dinge ordentlich vorauszuplanen war ganz offensichtlich nicht meine Stärke. Denn meine Hausaufgaben würde ich heute sicher nicht mehr machen. »Ihr könnt mir das Geld ja später wie …«
»Du glaubst, nur weil du mir ’ne bescheuerte Eisbombe spendierst«, schimpfte er weiter, und sein Wutanfall walzte über mich hinweg wie Johns Donnerstimme, »geh ich da rüber und setz mich mit diesen Schnöseln aus dem A-Flügel an einen Tisch?! Damit wir alle feststellen können, wie viel wir doch gemeinsam haben, oder was? Trotz aller kleinen Unterschiede, wie zum Beispiel, dass sie alle Designerklamotten anhaben und nagelneue Autos fahren, die ihnen ihre Daddys zum Geburtstag geschenkt haben, während meine Sachen von der Heilsarmee sind und ich einen alten, verrosteten Schrotthaufen fahre? Warum singen und tanzen wir nicht alle fröhlich miteinander und treten dann gemeinsam im Schulmusical auf? Wie in einem beschissenen Disney-Film! So stellst du dir das doch vor, oder? Aber ich sag dir was, Pierce: Nicht mit mir. Und ganz egal was Oma meint, du bist kein bisschen wie dein Dad. Mit seinem Geld kannst du deine Probleme nicht lösen. Außerdem, weißt du, wohin du dir dein Geld stecken kannst, Pierce? Schieb’s dir in den …«
»Heyheyhey«, unterbrach ihn Kayla in dem Versuch, den Frieden wiederherzustellen. »Was ist denn los? Wir sind doch nur zum Eis essen hier, oder?«
»Danke«, sagte ich, aufrichtig erleichtert. Ich hatte Alex noch nie so wütend gesehen.
»Dank mir lieber noch nicht«, erwiderte Kayla. »Wer bestellt schon ’nen Cola-Pool statt einer Eisbombe? Das ist total bescheuert.«
»Tatsächlich?« Mom hatte mich gewarnt, den Einheimischen hier nicht unabsichtlich auf den Schlips zu treten. Ich überlegte, was Jade in meiner Situation wohl tun würde. »Zumindest hab ich ihn nicht mit Cola light bestellt«, gab ich schließlich zurück.
Kayla schaute mich an und schüttelte langsam den Kopf. »Bist du sicher, dass sie diesen Lehrer nicht umgebracht hat?« Die Frage war an Alex gerichtet.
»Das war kein Witz eben«, sagte er und sah dabei nicht Kayla an, sondern mich. Und er meinte auch nicht meine Bestellung. »Es gibt Leute, die müssen hier leben .«
Etwas ganz Ähnliches hatte er heute Morgen auf dem Schulweg den Touristen zugebrüllt.
Und es tat weh, genau wie er es beabsichtigt hatte, denn jetzt wusste ich, was er von mir hielt … und wahrscheinlich auch von Mom. Seiner Meinung nach waren wir sowieso nur auf der Durchreise und scherten uns einen feuchten Dreck um die Angelegenheiten und Probleme der Einheimischen.
Irgendwie hatten wir das sogar verdient. Denn: Wo waren wir gewesen, als er ohne Mutter oder Vater aufwuchs, einzig und allein versorgt von unserer verrückten Oma?
Natürlich mussten wir ihm wie Touristen vorkommen. Sogar der Friedhofsaufseher hatte das angedeutet. Mom war nach meiner Geburt und Onkel Chris’ Verhaftung nie mehr auf Isla Huesos gewesen. Meinen Großvater habe ich nie kennengelernt. Erst bei seiner Beerdigung. Ebenso wie John.
Der, genauso wie Alex, nun nichts mehr von mir wissen wollte.
»Es tut mir leid«, sagte ich zu Alex, und ich meinte es wirklich ernst. »Ich weiß, dass sie uns nur eingeladen hat, weil sie gern die Neue abchecken wollen. Aber wen kümmert das schon? Dort drüben gibt es Stühle im Schatten, und wir müssen nicht mehr in dieser Schlange hier anstehen …«
»Vielleicht möchtest du ja mit ihnen im Schatten sitzen«, unterbrach mich Alex und kochte regelrecht über vor Wut. »Aber du bist nicht der Nabel der Welt, Pierce. Manche von uns haben vielleicht Probleme mit denen. Echte Probleme. Ist dir das schon mal in den Sinn gekommen?«
»Was für Probleme?«, fragte ich. Endlich kamen wir ein Stückchen vorwärts. Denn genau diese Frage hatte ich mir nun schon die ganze Zeit über gestellt. »Was hat dir Seth Rector getan?«
»Halt dich da raus, Pierce!«, fauchte Alex. »Du hast keine Ahnung, auf was du dich da einlässt. Glaub’s mir.«
»Hey, hallo, Leute!«, rief Farah, beladen mit einem Tablett voll großer Plastikbecher vom Anfang der Schlange. »Kommt ihr?«
»Äh«, sagte ich und winkte zurück. »Ja! Wir sind gleich da.«
Ich drehte mich wieder zu Alex um. »Ich weiß nicht, auf was ich mich da einlasse?«, fragte ich ihn. »Willst du mich veräppeln oder was? Muss ich dich daran erinnern, dass ich
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