Jerry Cotton - 0550 - Der Unheimliche
ihre Geschäfte geschlossen. Ein Teil von ihnen hat verkauft, zwei schwimmen irgendwo im Wasser, und der Rest hat sich zur Ruhe gesetzt, weil es für ihre Gesundheit zuträglicher ist. Sie befinden sich nämlich im Krankenhaus.«
»Sonst noch was?« fragte ich ruhig.
»Ja, unser Freund Mac McTire ist plötzlich verschwunden, so plötzlich wie gewisse Dokumente, die nie in Washington angekommen sind.«
Ich dachte an den unheimlichen Weißhaarigen mit dem verstümmelten Gesicht. Und ich erinnerte mich daran, was er hatte von mir erfahren wollen. Warum hatte er mich so plötzlich freigelassen? Wußte er nun, was er wissen wollte? War er dahintergekommen, was die Dokumente bedeuteten?
Wir kamen über den Highway nach New York. »Willst du was essen?« fragte Phil.
Ich schüttelte verneinend den Kopf.
»Okay, Jerry, dann fahren wir durch. Der Chef erwartet uns. Versuch zu schlafen, du wirst deine Kräfte brauchen.«
Phil war ein Prophet! Nur wußte ich das damals noch nicht!
***
Mr. High drückte mir fest die Hand, als ich mich, zusammen mit Phil, am späten Abend in seinem Büro meldete.
Ich wollte ihm sofort einen genauen Bericht geben. Aber er winkte ab. »Später, Jerry. Sehen wir uns erst diesen Tom Roarer an. Er hat bis jetzt noch nicht ausgesagt.«
Mit dem Fahrstuhl fuhren wir hinunter in den Keller, in dem sich einige Zellen befanden. Wir waren nur auf kurzfristige Besuche eingerichtet. Im allgemeinen überstellen wir unsere Gefangenen sehr schnell den zuständigen Behörden.
Wilkinson hatte heute Dienst im Zellentrakt. »Was Neues mit Roarer?« fragte der Chef. Wilkinson zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die schwere Stahltür. »Vor zehn Minuten habe ich zum letztenmal nachgesehen. Er schlief.«
Wir gingen den langen Gang entlang, von dem nach links und rechts die Zellen abzweigten. Vor Nummer 3 blieb Wilkinson stehen. Er schob die schweren Riegel zurück, öffnete das Schloß und stieß die Tür auf.
Tom Roarer lag zusammengerollt wie ein Igel auf der Pritsche. Die Decke hatte er bis zum Kinn hochgezogen, so daß man nur die Spitznase und die geschlossenen Augen sah.
Tom Roarer war für uns kein Fremder, wenn wir auch noch nie persönlich mit ihm zusammengetroffen waren.
»Los, aufstehen!« befahl Wilkinson.
Roarer rührte sich nicht.
»Riechst du nichts?« sagte ich leise zu Phil.
»Bittermandeln!«
Fast gleichzeitig stürzten wir auf die Pritsche zu. Doch Tom Roarer war nicht mehr zu retten. Er mußte schon längere Zeit tot sein.
»Wie konnte das passieren?« fragte Mr. High. »Wurde er nicht genau durchsucht?«
»Selbstverständlich, Chef«, antwortete Wilkinson aufgeregt. »Mir ist unverständlich…«
»Benachrichtigen Sie den Arzt«, unterbrach ihn Mr. High.
Ich beugte mich über den Toten. Seinem leicht geöffneten Mund entströmte der spezifische Geruch einer Blausäurevergiftung. Aber wie hatte das passieren können?
Selbstmord? Fast ausgeschlossen. Ich zweifelte nicht daran, daß Roarer von unseren Leuten genau unter die Lupe genommen worden war. Er trug auch keinen Ring, in dem man eine winzige Blausäurekapsel hätte verbergen können. Sein Tod war ein Rätsel. Was hätte Roarer alles erzählen können.
Wilkinson kam mit dem Arzt zurück, der den Toten flüchtig untersuchte.
»Kein Zweifel, Mr. High«, sagte d€;r Arzt und richtete sich auf. »Blausäure!« Unser Fotograf kam herein und machte Aufnahmen. Dann betrat sein Kollege die schmale Zelle, um eventuelle Spuren zu sichern.
Wir fuhren mit dem Chef nach oben. Mr. High öffnete eine rote Mappe, die nur für streng geheime Meldungen Verwendung fand. Wortlos reichte er mir ein Fernschreiben herüber, das von unserem obersten Chef in Washington unterzeichnet war. Der Inhalt war nur kurz: »Special Agent J. Cotton und Special Agent P. Decker sind ab sofort dem Headquarter in Washington unterstellt. Flug 00.45 bereits gebucht.«
Ich hatte gerade noch Gelegenheit, Mr. High Bericht zu erstatten. Dann wurde es Zeit für uns. Steve fuhr uns kurz vor Mitternacht zum Flugplatz.
***
Eine schwarze Pullman-Limousine rollte über das Flugfeld. Wir stiegen als erste aus und wurden von zwei Kollegen in Empfang genommen, die uns begrüßten, als sollte es zu einer Beerdigung gehen.
In Washington schien ein vornehmerer Wind zu wehen als bei uns in New York. Jedenfalls gelang es weder mir noch Phil, die beiden in ein Gespräch zu ziehen. Wir kamen uns vor wie Aussätzige, mit denen man möglichst keinen Kontakt
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