Jerry Cotton - 0553 - Ein Toter wird ermordet
er den Brustbeutel zufällig entdeckte, halte ich für unwahrscheinlich. Im Falle von Raubmord hätte er die Leiche durchsucht. Zuerst wäre er auf die Brieftasche gestoßen. Sie enthält viertausend Dollar. Aber darum hat sich Hatching nicht gekümmert, obwohl es für ihn eine bedeutende Summe sein muß. Ich weiß nicht, was in dem Brustbeutel steckt. Aber ich wette: Sein Inhalt ist das Mordmotiv.«
»Du willst dich jetzt mit der Frau unterhalten, Jerry?«
»Ja, und du holst die Kollegen von der Mordabteilung. Und veranlasse bitte, daß ab sofort nach Ted Hatching gefahndet wird. Ich nehme an, er ist in seinem Thunderbird geflohen. Moment.«
Ich ging in die Diele und öffnete die Tür zum Wohnraum. Nora hatte die Schuhe ausgezogen und die Füße auf die Couch gelegt.
»Ihr habt doch einen Thunderbird«, sagte ich, »welches Modell?«
Sie unterdrückte ein Gähnen. »Ein 65er Modell. Warum?«
»Farbe?«
»Weinrot.«
»Kennzeichen?«
»Jerry, was soll denn das? Hatte Ted etwa einen Unfall?«
»Ich erkläre dir gleich, worum es geht. Also das Kennzeichen?«
Sie nannte es mir. Ich wiederholte es laut. Floyd, der an der Wohnungstür stand, notierte die Ziffern. Dann fiel hinter ihm die Tür ins Schloß.
Nora richtete sich steil auf. »Da war doch eben wer…«
»Ein Kollege von mir.« Ich ging zum Tisch, griff nach der frisch geöffneten Flasche Whisky und schenkte noch einen kräftigen Schluck in Noras Glas. »Trink! Das beruhigt etwas. Du wirst es brauchen.«
Sie gehorchte. Aber ihre Hand zitterte. Erschreckte Augen sahen mich an. Doch schon schwebte der weiche isolierende Alkoholnebel zwischen ihr und der Wirklichkeit. Er schirmte ihr Gehirn ab gegen die brutalen Tatsachen, die ich ihr nicht ersparen konnte.
»Nora«, ich setzte mich neben sie, »es ist etwas sehr Schlimmes passiert. Dein Mann hat Jack Gilvan erstochen.«
Sie kapierte nicht sofort. Erst allmählich kam Verstehen in ihren Blick. »Erstochen?« Ihre Zunge stolperte. »Das ist… ist nicht wahr, Jerry.«
»Leider doch. Die Leiche liegt in eurem Schlafzimmer. Ted hat sie auf dem Teppich dorthin geschleift. Wahrscheinlich, um Blutflecke auf dem Boden zu vermeiden. Ich nehme an, dein Mann hat den Mord hier im Raum oder in der Diele verübt.«
Nora hing zwischen den Kissen der Couch wie eine Betäubte. Ihr Blick wurde stumpf. Der milchige Schimmer über den Augen verstärkte sich.
Ich setzte ihr das Glas an die Lippen, und sie trank gehorsam wie ein Kind. Es war eine Pferdekur. Aber Trunkenheit und Kater waren besser als ein Schock mit hysterischen Schreikrämpfen. Versteht sich, daß ich ihr nicht zuviel einflößte. Immerhin sollte sie mir noch einige Fragen beantworten.
»Nora, was weißt du über Teds Absichten?«
Sie schluckte. »Nichts, Jerry, nichts.« Plötzlich wurden ihre Augen feucht. Tränen liefen über das glatte Make-up ihrer Wangen. »Nichts, Jerry, ich schwöre es dir. Ted hat mich weggeschickt, weil er mit Jack reden wollte. Er wollte ihm sagen: Wenn du Nora in Ruhe läßt, verzichten wir darauf, dich anzuzeigen. Aber, daß dann… Jerry, ich verstehe das nicht. Vielleicht… vielleicht hat Jack meinen Mann bedroht. Vielleicht mußte Ted sich wehren und…«
»Nein, Nora. Es ist ein ziemlich kaltblütiger und sadistischer Mord. Ein Gemetzel. Ted hat Jack beraubt. Er hat ihm etwas abgenommen, das Jack in einem Brustbeutel trug. Kannst du dir denken, was das war?«
»Brustbeutel?« Sie preßte die Fäuste gegen die Schläfen. »Das stimmt. Jack hat immer einen Brustbeutel getragen. Seit seiner Militärzeit. Manchmal hatte er Geld drin. Manchmal seinen Talisman. Manchmal nichts.«
»Talisman? Was war das?«
»Eine Haarlocke von mir. Er hatte sie in eine kleine flache Klarsichthülle gesteckt. Jack liebte mein Haar.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das kann es nicht sein. Eins steht fest, Nora. Dein Mann ist ein Mörder. Hätte er aus Notwehr gehandelt, wäre er noch hier. Aber er ist getürmt. Ich glaube allerdings nicht, daß er weit kommt. Sein Vorsprung beträgt nur eine halbe Stunde. Hat er Geld bei sich?«
»Höchstens ein paar Cents. Ich wollte morgen auf die Bank gehen. Wir haben kein Geld mehr im Haus.«
Ich überlegte. Daß Hatching die Kroko-Brieftasche seines Opfers zurückgelassen hatte, erschien jetzt in einem anderen Licht. Durch mein Auftauchen war vermutlich alles anders gelaufen, als er es sich gedacht hatte. Sein Plan: Opfer berauben, Leiche beseitigen, weiter hier leben — als sei nichts geschehen.
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