Jerry Cotton - 0553 - Ein Toter wird ermordet
den kürzesten Weg zur Quimby Ave im Union-Port-Viertel. Nicht ich fuhr, mein Pflichtgefühl fuhr. Denn vielleicht hatte Hatchings Umschlag Bedeutung.
In der Quimby Ave schaltete ich in den ersten Gang zurück. Ich tuckelte durch die stille, breite saubere Straße. Ich fuhr vorbei an gemauerten Parkeinfassungen, an Toren, deren Steinpfeiler das Mondlicht wie Marmor widerspiegelten. Rauhreif lag auf sorgfältig gestutzten Rasenflächen. Die Äste der Edeltannen knarrten im Wind. Blattlose Buchen gaben den Blick auf eine Villa frei.
Quimby Ave Nr. 60. Ich war am Ziel.
Das Tor stand offen. Ich rollte über die Auffahrt bis zu einem kiesigen Platz. Knirschend malmten die Reifen über die Steine. Als ich ausstieg, sah ich, daß es kein Parkplatz war. Vermutlich wurden hier im Sommer Picknicks und Gartenpartys abgehalten. Blautannen umstanden den Platz. Welkes Laub war herbeigeweht. Es füllte einen kleinen Springbrunnen, den drei pausbäckige Marmorengel stützten. Neben dem Platz führte die Auffahrt weiter. Aber ich hatte keine Lust, noch mal zu manövrieren. Ich ließ den Wagen zurück.
Als ich die Villa sah, blieb ich verdutzt stehen. Ein verrückter Architekt — oder ein normaler Architekt im Aufträge eines verrückten Bauherrn — hatte sie dem Weißen Haus in Washington nachgebildet. Abgesehen von der Größe stimmte alles.
Hinter zwei Fenstern im Parterre brannte Licht. Aber die Fenster lagen nicht nebeneinander, sondern waren durch vier dunkle Punkte getrennt.
Ich sah auf die Uhr. Es war ein Viertel vor sechs. Der Himmel begann sich milchig zu färben. Trüber blinkten die Sterne. Der Mond verlor seine Kraft.
Es war nicht die richtige Zeit, um an fremde Türen zu klopfen. Aber schließlich: Es ging um einen Mordfall, der Täter war flüchtig und jeder Hinweis konnte nützen.
Ich fühlte mich klein und unbedeutend, als ich vor dem wuchtigen Portal stand. Neben einer schmiedeeisernen Glocke schimmerte der Leuchtschalter einer Klingel. Ich betätigte ihn und hörte melodisches Bimmeln im Haus. Ich wartete.
Hinter den Mauern war es still. Als die Tür geöffnet wurde, schrak ich auf. Ich hatte keine Schritte gehört.
Vor mir stand John Elliot. Er trug denselben Anzug wie vorhin in der Bar. Das weiche Gesicht schwitzte. Weißblondes Haar klebte an der Stirn.
»Guten Morgen«, sagte ich. »Tut mir leid, daß ich Sie stören muß, Mr. Elliot. Aber es läßt sich nicht ändern. Ich bin vom FBI.« Ich hatte meinen Ausweis gezückt. Aber der Mann sah nicht hin. Sein Mund stand offen. Der Atem rasselte. Blaue Träumeraugen waren auf mich gerichtet. Aber sie sahen mich nicht. Der Blick war entsetzt. Dann änderte sich der Ausdruck. Die Augen wurden stumpf und nichtssagend wie leere Tassen.
»Vom FBI«, sagte er. Es klang nicht fragend. Es klang, als hallten die Worte noch in seinen Ohren, als lauschte er ihnen nach, bemüht, sich über ihre Bedeutung klarzuwerden.
»Vom Federal Bureau of Investigation, Mr. Elliot.« Ich buchstabierte fast. »Und ich komme in amtlicher Eigenschaft. Wollen wir uns hier unterhalten? Wollen wir durch den Garten spazieren? Oder wollen wir ins Haus gehen?«
Elliot trat zur Seite.
Ich nahm die Hände aus den Manteltaschen und schlurfte in die düstere Halle. Es gab viele Türen und eine Freitreppe in den ersten Stock.
Ich drehte mich um. Wie angeschmiedet stand Elliot neben der Tür. Er hatte die rechte Hand erhoben, bewegte sie vor dem Gesicht und sah sie von allen Seiten an. Durch die geöffnete Tür blies der Wind herein.
Ich ging zurück, schloß die Tür, stellte mich vor Elliot und stieß ihn an. »Was ist denn los mit Ihnen? Vorhin in der Bar waren Sie doch noch ganz munter.« Er ließ die Hand sinken. Jetzt sah ich, daß er weinte. Seine Augen schwammen. Eine Träne löste sich und rann ihm übers Gesicht.
»Wenn Sie mir sagen, Mr. Elliot, was Sie so bekümmert, kann ich Ihnen vielleicht helfen.«
Er antwortete nicht. Er wendete sich ab, ging nach links in die Halle und blieb vor einem großen Wandspiegel stehen, jedoch ohne hineinzusehen. Sein Blick suchte die Handschuhablage unterhalb des Spiegels. Dort, auf der Marmorbank, lag etwas. Es war klein, schmal und länglich. Mehr sah ich nicht, denn in der Halle brannte kein Licht.
Ich ging zu Elliot. Was seinen Blick magisch anzuziehen schien, war ein venezianischer Dolch. Seine Klinge hatte Flecke. Ich tupfte mit dem Finger darauf und fühlte klebriges Blut.
Ich war viel zu müde, als daß ich heftig reagiert hätte.
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