Jerry Cotton - 0563 - Der letzte Mann in Jennys Leben
mich an die Wand, scheinbar in den Anblick der Elefantenschildkröten auf der anderen Seite versunken.
Um 16.20 Uhr kam ein mittelgroßer, gutgekleideter Mann die Treppe herauf, ging an Underwood vorbei, machte kehrt, beugte sich zu dem Ganoven hinab und sprach ihn an. Sofort stand der Schnurrbärtige auf. Er sagte etwas. Der andere nickte. Dann schlenderten beide um die Biegung des Ganges in die nächste Abteilung.
Ich blieb, wo ich war. Ich konnte beide sehen. Sie stellten sich vor eins der Fenster, drehten der Schlangengruppe den Rücken zu und unterhielten sich leise. Ihre Gesten blieben sparsam. Trotzdem merkte ich, daß beide heftig argumentierten.
Der Mittelgroße hatte ein grobes dunkles Gesicht. Die Brauen waren schwarz und buschig wie abgenutzte Bürsten. Eine Narbe, die neben der Nase begann und bis in das Kinngrübchen führte, spaltete den Mund. Der Mann hatte keine Schlitzaugen und nur leicht betonte Backenknochen. Trotzdem mußte ich an den Asiaten denken, von dem Marys Entführer gesprochen hatten.
Underwood zog etwas aus der Tasche und gab es dem Narbigen. Das schmale Ding schien ein Umschlag zu sein. Der Narbige nickte, schob es in die äußere Manteltasche, gab Underwood die Hand und schlenderte zum Ausgang. Dabei zog er dunkle Handschuhe an. Mit dem Daumen strich er über seine Narbe. Bevor er die Stufen hinabstieg, schlug er den Mantelkragen hoch.
Underwood stand am Fenster. Er starrte zu Boden, wirkte entspannt, schien aber über etwas nachzugrübeln. Das Bärtchen auf seiner Oberlippe zuckte wie eine Raupe, die eilig vorwärts marschiert.
Ich entschied mich sofort. Underwood war uns sicher. Also folgte ich dem Narbigen.
Draußen brannten die Lichter. Dämmerung senkte sich auf die Stadt, und der Nebel wurde suppendick, schwärzlich und so zäh, daß man versucht war, ihn mit den Händen zu teilen. Der Narbige ging zur Bushaltestelle an der State Street. Mehr als ein Dutzend Leute warteten dort. Dem Narbigen fiel nichts auf, als ich mich dazustellte. Er stand etwas abseits, sah ausdruckslos in die wallenden Nebelschwaden und wirkte still und unauffällig. Aus der linken Manteltasche ragte der Rand des Umschlags.
Der Bus kam. Hinter dem Narbigen drängte ich mich hinein. Er roch nach Rasierwasser und Tabak. Ich blieb auf Tuchfühlung. Als er sich setzte, belegte ich den Fensterplatz hinter ihm. Wir saßen auf er linken Seite, und ich brauchte nur die Hand neben dem Sitz vorbeizuschieben, um an den Umschlag zu kommen. Ich benutzte das allgemeine Gedränge und die Tatsache, daß ich allein in meiner Reihe saß.
Jetzt fühlte ich Papier. Der Umschlag glitt aus der Tasche. Ich zog die Hand zurück. Ein Blick. Es war kein Umschlag. Es war eine von Rand McNallys Landkarten. Florida — stand in fetten roten Lettern außen darauf. Ich entfaltete die Karte. Im nächsten Moment fühlte ich, wie mir zwickende Spinnenbeine über das Rückgrat liefen.
Ich kannte die Karte. Die gleiche hatte ich vor knapp anderthalb Stunden auf Elsas Schreibtisch gesehen. Auch auf dieser hier waren einige Stellen an der Südküste Floridas markiert. Allerdings nicht mit Bleistift, sondern mit Tinte. Von den Kreuzen verliefen Tintenlinien südwärts in die Karibische See.
Ich faltete die Karte zusammen, beugte mich vor, schob die Hand durch den Spalt zwischen Buswand und Sessel, tastete vor, fand den Schlitz der Manteltasche und ließ die Karte behutsam wieder hineingleiten.
Der Bus fuhr durch die Fifth Avenue bis hinauf zur 55. Straße. Der Narbige stand auf und stieg aus. Ich war hinter ihm. Er ging zur Kreuzung, wartete am Fußgängerüberweg auf Grün, überquerte die Straße und betrat das Gotham, eins der großen und exklusiven New Yorker Hotels.
Diesmal ließ ich ihm eine Minute Vorsprung. Als ich in die Hotelhalle kam, war er nicht mehr zu sehen. Ich ging ziemlich lange über einen dicken maronenfarbenen Teppich. An der Rezeption — sie war nur halb so lang wie eine Kegelbahn — beugte sich ein Mann, offenbar der Empfangschef, über die Gästeliste. Er war sehr beschäftigt und bemerkte mich nicht.
Ich klopfte auf den Empfangstisch, und der Mann hob den Kopf. Höhensonne hatte sein Gesicht gebräunt. Die Silberfäden an den Schläfen wirkten, als hätte er sie eigenhändig gefärbt.
»Ich brauche eine Auskunft.« Mein Ausweis war aufgeklappt. Ich schob ihn über den Tisch. Der Mann sah sich das Bild, die Stempel und die Vermerke an. Er ließ sich Zeit. So viel, daß er gerade noch höflich
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