Jerry Cotton - 2909 - Rache ist ein einsames Geschaeft
wirklich gelungen ist. Naomi war extrem still und in sich gekehrt. Aber sie machte uns nie Kummer. Half Elisabeth im Haushalt, machte ihren Schulabschluss. Es gab niemals Probleme mit Alkohol, Drogen oder Jungs.«
Was Marcus Bradshaw uns da erzählte, klang wie ein Märchen.
»Trotzdem verließ Naomi Sie, sobald sie volljährig war. Das wirkt so, als habe sie es kaum erwarten können, von hier wegzukommen.«
In diesem Moment betrat Elisabeth Bradshaw mit einem Tablett und einer Kanne Kaffee den Raum. Sie hatte Phils letzte Worte gehört und schaute ihn jetzt mit einem Ausdruck des Schmerzes an. »Für Naomi war das Leben hier immer mit bedrückenden Erinnerungen verbunden. Wäre ihre Familie nicht so stark vom Schicksal geprüft worden, hätte sie ja nicht in einer Pflegefamilie leben müssen.«
Das war natürlich auch eine Erklärung. Dennoch wollte ich mich damit nicht zufriedengeben. »Wo ist Ihre Pflegetochter jetzt?«
Marcus und Elisabeth Bradshaw wechselten einen kurzen Blick.
»Wir … wissen es nicht.« Marcus Bradshaw griff nach seiner Tasse und starrte mit leerem Gesichtsausdruck hinein. Dann gab er sich einen Ruck.
»Naomi meldete sich direkt nach ihrem Auszug zwei Mal telefonisch bei uns. Sie war an der Westküste, Kalifornien. Lebte in Pleasant Hill, in der Nähe von San Francisco. Sie wollte studieren, konnte sich aber anfangs nicht entscheiden, was genau. Dann kam ein Brief. Sie hatte sich an der Universität für Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben und jobbte nebenher. Wir luden sie ein, uns in den Semesterferien zu besuchen. Aber sie lehnte ab, ebenso wie die Zuwendungen, die wir ihr anboten, um besser über die Runden zu kommen. Danach meldete sie sich immer seltener, und schließlich kam gar nichts mehr.«
»Und das hat Sie nicht in Aufregung versetzt?«, wollte Phil wissen.
»Naomi war nicht unser erstes Pflegekind und auch nicht unser letztes. Jedes einzelne dieser Kinder hat im Erwachsenenalter einen ganz speziellen Weg gewählt. Für manche gehört es dazu, die Brücken hinter sich abzubrechen. Wir haben das immer respektiert.« Elisabeth Bradshaw lächelte meinen Kollegen traurig an. Ihr Mann griff zu ihr hinüber und tätschelte seiner Frau kurz und liebevoll die Hand.
»Wie schon gesagt, wir suchen Naomi, würden sie gerne in einer speziellen Angelegenheit sprechen. Es gibt Hinweise darauf, dass wir in absehbarer Zeit die sterblichen Überreste ihrer Schwester Phoebe bergen können. Damit sie dann ein ordentliches Begräbnis erhalten kann, wäre es wichtig, die letzte noch lebende Angehörige zu erreichen. Wenn Sie uns also irgendeinen Hinweis geben können oder Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.« Ich legte meine Visitenkarte auf den Tisch.
Die beiden Bradshaws nickten. Dann legte Elisabeth Bradshaw kurz den Finger an die Lippen, als sei ihr noch etwas eingefallen.
»Es könnte sein, dass ich irgendwo noch einen oder zwei der Briefe habe, die Naomi uns damals geschrieben hat. Sie teilte sich in Kalifornien das Apartment mit einer Studienkollegin. Vielleicht steht in einem der Briefe der Name der jungen Frau und Sie kommen über diese Information weiter.«
»Das könnte uns helfen. Wie schnell können Sie das prüfen?«
»Agent Cotton, ich muss auf den völlig überfüllten Dachboden hinauf, aber ich verspreche Ihnen, gleich nachher zu suchen und Sie anzurufen, wenn ich etwas finde.«
»Ach, noch eins«, bat ich sie. »Falls Sie dabei noch ein Foto von Naomi finden, schicken Sie es uns ebenfalls.«
***
Zurück im Office startete Phil mit den Daten von Naomis Immatrikulierung gleich eine Anfrage an die Universität von Berkeley, während ich zu den Kollegen hinunterging, die die Gegenüberstellung zwischen Hank Hamilton und Marjorie Rosenberg vorbereitet hatten. Ich erlebte eine Enttäuschung.
»Hank Hamilton ist auf Kaution frei. Seine Anwältin hat ganze Arbeit geleistet und ihn mit sämtlichen juristischen Tricks und eiserner Härte herausgepaukt. Sie will einen neuen Termin für die Gegenüberstellung, damit sie selbst auch dabei anwesend sein kann.«
Verärgert fuhr ich in den 23. Stock zurück und versuchte von dort, Marjorie Rosenberg zu erreichen. Niemand hatte ihr Bescheid gesagt, dass der Termin verschoben werden musste. Aber anscheinend war sie schon unterwegs, denn in der Galerie meldete sich niemand. Auch das Mobiltelefon spulte lediglich eine Ansage ab. Falls sie im Laufe des Nachmittags nicht in meinem Büro auftauchen sollte, würde
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