Jerry Cotton - 2911 - Jung schoen und toedlich
gesehen?‹
***
In der Tat sah sie aus wie ein kleines Mädchen, obwohl sie ein Jahr älter war als ihre Freundin Patricia. Das hatten uns bereits Sergeant Guardo und Patricias Vater im 25th Precinct erzählt. Jessica hatte ein feines Puppengesicht, das jetzt allerdings verkniffen aussah. Wenn sie lächelte, musste sie hübsch sein.
Sie trug Jeans, Sportschuhe und ein dunkelblaues Sweatshirt. Auch ohne die Messerszene von soeben konnte man ihr ansehen, was für ein Energiebündel sie war. Eine, die es gewohnt war, ihren Willen durchzusetzen.
Ja, ich war sicher, sie schon mal gesehen zu haben. So sicher wie ich von Berufs wegen sein konnte, unter den acht Millionen Einwohnern unserer Stadt einen einzigen zu erkennen. Es lag daran, dass Computertechnik, Fotodateien und elektronische Datenübermittlung das bildhafte Gedächtnis unterstützten, das unsereiner im Laufe der Jahre entwickelte.
Jessica merkte, dass ich sie forschend ansah.
»Was ist?«, stieß sie hervor. »Sehe ich verdächtig aus? Was starrst du mich an?«
Ich ignorierte ihr Duzen und erwiderte: »Wo könnte ich Sie schon mal gesehen haben?«
»In jeder Disco.« Sie kicherte albern. »Es gibt wohl keine in New York, die ich noch nicht von innen gesehen habe. Kennst du dich aus in Discos?«
Ich ging nicht darauf ein. So kamen wir nicht weiter, und sie wusste es. Entsprechend überzeugt schien sie zu sein, dass wir nicht mehr über sie erfahren würden, als Patricias Eltern und ihre eigene Mutter uns sagen konnten.
»Weshalb haben Sie sich gestritten?«, fragte Phil und sah Mariana Gonçalves und ihre Tochter an.
»Na, warum wohl?«, entgegnete Jessica bissig. Anklagend zeigte sie auf ihre Mutter. »Weil sie mich schon wieder beschuldigt hat. Wegen Patty! Ich soll schuld sein, dass sie verschwunden ist. Ausgerechnet ich! Das ganze Theater veranstaltet doch nur dieses hysterische Weib aus dem Erdgeschoss!«
Mariana brach plötzlich in Tränen aus. Sie streckte die Arme aus und blickte an ihrer Tochter vorbei. »Ach, Mary!«, rief sie schluchzend. »Es tut mir so leid! Was habe ich bloß falsch gemacht? Ich wollte doch immer nur das Beste für sie.« Sie streifte ihre Tochter mit einem geradezu scheuen Blick, während Mary Franklin eintrat und näher kam, ohne auf Jessicas Beleidigung zu reagieren. Mary sah uns an und bat stumm um unsere Erlaubnis. Dann, als wir nickten, setzte sie sich neben Mariana auf das Sofa, legte einen Arm um sie und ließ sie an ihrer Schulter weinen.
Ich gab Jessica einen Wink und befahl: »Mitkommen.«
»Was?«, fauchte sie. »Willst du mich verhaften?«
»Keine schlechte Idee«, sagte Phil und wies ihr den Weg ins Treppenhaus.
Sie begleitete uns bereitwillig. Ich schloss die Tür hinter uns, und wir nahmen Jessica ins Gebet. Sie lehnte sich an das Geländer des Treppenabsatzes, verschränkte die Arme vor der Brust und machte ein trotziges Gesicht.
»Ihr könnt mich mal«, knurrte sie.
»Wir können Sie festnehmen«, erwiderte ich grob. »Wir stecken Sie für 24 Stunden in den Käfig und berichten dem Staatsanwalt, was wir gerade mit eigenen Augen und Ohren erlebt haben. Dann sind Sie dran wegen vorsätzlicher Bedrohung, und der Richter schickt Sie ruck, zuck auf die Insel.«
»Rikers Island?« Sie sah mich an, als wollte sie mich anspucken.
»Allerdings«, sagte Phil.
Ihr Kopf ruckte in seine Richtung. »Na und? Damit macht ihr mir keine Angst. Außerdem habe ich die Alte nicht bedroht. Ihr habt’s ja gehört. Das ist nur ein Spiel. Damit bauen wir unsere Spannungen ab. Und es funktioniert supergut. Wenn die Psychotypen das mitkriegen, machen sie eine Therapie draus und verdienen sich dumm und dämlich damit.«
»Wo ist Patricia?«, unterbrach ich ihre Schwatzhaftigkeit.
Ihr Blick sprang mir ins Gesicht. »He, Mann, was ist das jetzt? Spielt ihr hier böser Bulle – böser Bulle? Wo bleibt der gute? Wenigstens einer von euch beiden Hübschen muss doch nett zu mir sein.«
Phil und ich wechselten einen Blick. Wenn man wollte, konnte man über die Kleine lachen. Aber wir wollten nicht, da waren wir uns einig. Erstens hatten wir einen Mordfall aufzuklären, und zweitens interessierte mich an Jessica vor allem, wo ich sie schon mal gesehen hatte.
»Beantworten Sie meine Frage«, verlangte ich.
Sie schrie mich an. »Kann ich nicht, Mann! Das weißt du ganz genau. Patty ist meine Freundin, verdammt noch mal. Wenn einer Interesse daran hat, dass sie gefunden wird, dann ich. Also hör gefälligst auf mit solchen
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