Jerusalem
betten, und auch die Hoffnung auf die Herrschaft über reiche Grafschaften, sie vereinen all die sechzig oder siebzig Tausende. Mich erstaunt, dass etliche Adlige mit dem christlichen Heer reiten, die den Zug Peter des Eremiten überlebt haben, auch Wilhelm der Zimmermann und Thomas La Fére. Werden sie wieder schänden, brandschatzen und plündern? Ich zweifle nicht daran. Nun ist die Festungsstadt Nikaia von allen Seiten umzingelt. Die Seldschuken wehren sich verzweifelt, aber wenn jeder von uns, der eine Waffe führen oder an den Leitern und Belagerungstürmen hantieren kann, die Türme und die Mauern berennt, wird Nikaia binnen eines Tages fallen. Am Morgen des zweiten Tages werden die Anführer der Heere dazu die Befehle geben. Aber die Fürsten wissen, dass viele romanische Christen in Nikaia leben. Es wird ein großes Kämpfen und Töten sein, wenn wir eindringen, die Tore aufstoßen und die Seldschuken niederhauen. Dies sagt auch General Butumites, in dessen Lager ich mich sicher fühle. Jeder redet von der großen Beute, die wir machen werden. Sie wird aus armen Fürstensöhnen wie mir reiche Gotteskrieger machen.
Die Federspitze war leer, die Tinte trocknete rasch in der Hitze. Rutgar dachte an den Kampf der kommenden Tage, und daran, dass mindestens drei andere Männer ihre Erlebnisse niederschrieben - Fulcher, der von Agulilers und Guibert von Nogent -, rollte das knisternde Pergament zusammen und verwahrte das Schreibzeug.
Kapitel XXI
A.D. 1097, 18. T AG IM J OHANNISMONAT ,
M ORGENGRAUEN
D IE T ORE VON N IKAIA
»Darum soll das Schwert über ihre Städte kommen und soll ihre Riegel aufreiben und fressen um ihres Vornehmens willen.«
(Hos 11,6)
Noch standen die Sterne am Himmel. In der Stunde vor dem Ende der Nacht mischten sich Tausende Vogelstimmen in den Gesang. »Ite, missa est!« Die Gebete und Lieder der nächtlichen Messen, die in jedem Lager gefeiert wurden, verhallten. Trompetensignale und Trommelschläge riefen die Bewaffneten zusammen; die Zahl brennender Fackeln wuchs auf scheinbar wunderbare Weise. Binnen kurzer Zeit bildeten die Lichter einen offenen Ring, der sich Schritt um Schritt um die Mauern zu schließen begann. Von drei Seiten näherten sich Kriegsknechte, Ritter, Handwerker und Helfer den Schleudern und Türmen. An einigen Dutzend Sturmleitern machten sich die Bewaffneten zu schaffen, an Ballisten, Manganen und Wurfmaschinen. Ein Belagerungsturm bewegte sich mit knarrenden Rädern auf untergelegten Bohlen durch die Dunkelheit.
Aus dem Lager des Generals kamen Reiter, angeführt von Berenger und einigen anderen Warägern. Rutgar und Chersala, ebenso in Waffen wie alle anderen, wussten halbwegs, worum es ging; aber auch die Söldner des Generals Tatikios kannten nicht alle Befehle. Reiter und Fußtruppen umrundeten im Licht weniger Fackeln am östlichen Rand das Lager Tancreds, das sich halb geleert hatte, und näherten sich leise auf der Straße dem Konstantinopel-Tor. Die Torflügel waren mit Eisen beschlagen, das im zuckenden Licht schwach schimmerte. Voller Misstrauen sah sich Rutgar um und glaubte zu erkennen, dass viele Reiter und Fußkämpfer der Generale fehlten. Sie waren auch nicht im Lager zurückgeblieben. Auf den Türmen und Mauern war niemand zu sehen, aber als Berenger an Rutgars Seite heranritt und nach oben zeigte, glaubte Rutgar große Schatten erkennen zu können, die sich vor den Sternen bewegten.
»Was geht dort oben vor?«, sagte Rutgar leise. Berenger zuckte mit den Schultern und wedelte den Rauch einer Fackel von seinem Gesicht weg.
»Ich weiß nur, was in der Stadt und hinter dem Tor vor sich geht. Warte noch eine halbe Stunde.«
Wandernde Lichter und viele Geräusche, die kaum noch zu unterscheiden waren, näherten sich der Stadt. Noch war kein einziger Brandpfeil abgeschossen worden. Die Männer der Generale bildeten zwischen den Bäumen eine doppelte Reihe an den Rändern der Straße, die bis zu dem Tor reichte. Langsam wich die Dunkelheit. Im Osten bildete sich hinter den Hügeln ein heller Streifen. An den Stellen, an denen sich die Anführer und ihr Gefolge trafen, nahm die Zahl der Fackeln zu, obwohl in weniger als einer Stunde die ersten Sonnenstrahlen die Mauerbrüstungen treffen würden. Chersala fasste nach Rutgars Hand; ihre Finger waren kalt und zitterten. Vom Pferderücken aus sahen sie eine gewaltige Masse aus Leibern und Köpfen, Helmen und Schilden, auf denen ein schwacher Abglanz der Flammen zuckte und die zwischen den
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