Jerusalem
Balken, Brettern und Seilen, hochgereckten Kreuzen und Lanzenspitzen wogte. Ungewöhnlich leise, in unerbittlicher Langsamkeit, schloss sich der Ring um die dunklen Mauern.
»Die Hälfte der Krieger aus Konstantinopel«, sagte Berenger, als sie ihre Pferde in Steinwurfweite vor dem Tor anhielten, »sind heute Nacht durch das Seetor eingelassen worden. An ihrer Spitze Manuel Butumites.«
»Dann glaube ich zu wissen, was hinter dem Tor ist«, antwortete Rutgar. Chersala blickte von ihm zu Berenger, dann heftete sich ihr Blick wieder auf das Tor.
»Du bist ein kluges Ritterlein«, sagte Berenger. In seinem Gesicht, glatt geschabt und ölglänzend, glaubte Rutgar wieder einmal ein größeres Wissen zu erkennen als das, über das er selbst verfügte. Offensichtlich war Berenger wirklich einer der engsten Vertrauten des Generals. »Ich hoffe, dass der General Erfolg hatte. Nun - wir werden es gleich erleben.«
Im Halbrund um die Stadtmauern kam die Menschenmenge zum Stehen. Rutgar drückte Chersalas Hand und murmelte: »Kein Grund zur Furcht. Andere, Mächtigere, entscheiden für uns. Und über uns entscheidet Gott.«
Überraschend leise öffneten sich die Torflügel nach außen. Rutgar hatte Knarren und Quietschen erwartet. Der kleine Platz zwischen den Mauern, den der sich weitende Spalt den Blicken freigab, war hell erleuchtet. Ein Dutzend seldschukischer Reiter trabte heraus, ein knappes Dutzend Kamele folgten, auf deren Rücken große Kästen aus Holz und Leinwand schwankten; Reiter zogen die Tiere mit den langen Hälsen hinter sich her. Dann erschienen Manuel Butumites und einige Männer seiner engsten Umgebung; der General rief:
»Wir haben verhandelt. Freier Abzug für die Emire und ihre Familien - Befehl von Alexios Komnenos, unserem Basileus. Zur Seite! Berenger: Ihr sichert die Straße nach Norden.«
»So wird es geschehen, General!«, rief Berenger. »Schwerter heraus, Männer!«
Bisher hatten die Belagerer noch nicht gesehen, dass sich das Tor geöffnet hatte. Im Laufschritt kamen hinter den schwankenden Kamellasten einige Hundert seldschukische Bogenschützen aus der Stadt und folgten den Reitern, die auf der Straße nach Norden trabten. General Butumites, der einen schweren Schimmel ritt, bog ab und zügelte sein Pferd zwischen seinen bewaffneten Männern. Seine Stimme fuhr mühelos durch die geräuschvollen Chöre, und Rutgar verstand:
»Die seldschukische Besatzung hat die Stadt übergeben und zieht ab. Die Familien der Emire sind geachtete Gäste des Basileus. Die Stadt ist voller petschenegischer Söldner - es wird weder geplündert noch gebrandschatzt. Dafür sorgt ihr, meine Getreuen.«
Inzwischen hatten sich Tausende Belagerer den Mauern genähert. Leitern wurden angelegt, der Nachthimmel färbte sich grau und in fahles Blau, die Belagerungstürme knarrten und ratterten völlig ungehindert an den Fuß der Mauern. Rutgar blickte den General von der Seite an und sah, dass er lächelte.
»Im Sonnenlicht werden wir die Fahnen des Kaisers auf den Türmen sehen!«, rief Butumites. »Zwar gibt es keine Beute, ihr Tapferen, aber der Kaiser wird euch allen hochherzige Geschenke machen!«
Armageddon ist abgewendet, dachte Rutgar erleichtert. Kein Lösegeld für die seldschukischen Edelleute! Keine goldgefüllten Schatztruhen. Sie werden sich grämen, die christlichen Fürsten!
Er lachte und sagte zu Chersala: »Jeder von uns sollte heute Gott auf Knien danken! Es wird keine Belagerung geben, keine Verwundeten, keine Toten, weder hier noch dort.«
Vielleicht tausend Fremde - Reiter, zweirädrige, schwer beladene Karren, Fußkämpfer, hoch bepackte Esel und Kamele, abermals Reiter - zogen durch die Gasse zwischen den Lagern, bogen auf die Straße nach Civetot und Drakon ab und verschwanden hinter den Bäumen und dem Schilfgürtel des Seeufers. Krachend klappten die Vorderteile der Belagerungstürme nach vorn und entließen brüllende, schwertschwingende Angreifer. Niemand stellte sich ihnen entgegen. Von den obersten Leitersprossen sprangen an mehr als hundert Stellen die Belagerer auf die Mauern. Im strahlenden Licht der ersten Sonnenstrahlen sahen sie, wie sich Dutzende kaiserliche Fahnen im müden Morgenwind wellten. Butumites brüllte:
»Berenger! Attikas! Rutgar! Begleitet und beschützt die Frauen und Kinder auf dem Weg nach Pelekanon!«
Berenger riss den Arm in die Höhe, vollführte kreiselnde Bewegungen und schrie: »Zu mir, mit mir zur Straße! Wir sichern den Weg der
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