Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
Vom Netzwerk:
Wolken aus Sonnenuntergang.

Kapitel XXIV
 
A.D. 1097, 12. T AG IM W EINMOND (O KTOBER ),
UM M ITTERNACHT
S CHLUCHTEN DES A NTITAURUS
 
»Da erzitterte die Erde, der Himmel troff, und die Wolken troffen von Wasser. Die Berge ergossen sich vor dem Herrn ...«
(Ri 5,5)
 
    Vor einer Stunde hatte der peitschende Regen aufgehört. Von jedem Blatt, von allen Zweigen schlugen schwere Tropfen auf die Pilger und ihre Tiere und rannen an den Felswänden herunter. Hoch über Rutgar lösten sich inmitten triefenden Wurzelwerks kopfgroße Steine und polterten, gefolgt von Wassergüssen und Schlamm, auf den Sims herab. Rutgar hob den Schild, fasste den Zügel fester und drängte sein scheuendes Pferd ein paar Schritte zurück; hinter dem erschreckt auskeilenden Tier und vor ihm prasselte der nasse Bergrutsch herunter und machte den Pfad halb unpassierbar. Zwischen den Berggipfeln hing dunkelgrauer Nebel, der jeden Laut verschluckte.
    »Langsam, ganz ruhig«, sagte er und richtete seine Blicke nach oben. »Wir werden nicht abstürzen, mein Guter.«
    Drei Tage hatte der Zug von Kaisareia nach Koxon gebraucht. Die alte Heerstraße war jenseits von Koxon nach und nach in Dutzende schmaler Pfade zerfasert, die sich an den Hängen entlangwanden, steil aufwärts und ebenso steil abwärts. Der Fels war rutschig, jeder Schritt ein tückisches Abenteuer. Schwer beladene Saumtiere stürzten in die Schluchten und rissen ihre Führer und andere Tiere mit. Nicht ein einziger Ritter saß im Sattel, sondern zerrte sein Ross hinter sich her. Der Pilgerstrom hatte sich in tausend Rinnsale verwandelt. Menschen und Tiere konnten nur hintereinandergehen und tasteten sich seit endlosen Tagen durch das Gebirge. Nicht ein einziger Sonnenstrahl verirrte sich in die Schluchten und Klüfte. Die Karren waren, so gut es ging, in einzelne Teile zerlegt worden, die über die schmalen Pfade gezerrt wurden. Jeder Pilger, bis auf die Haut durchnässt, schleppte schwitzend und hustend nasse, schwere Lasten.
    Rutgars Stiefel versanken ebenso wie die Hufe seines Rappen tief im Schlamm und Geröll. Nach fünf Dutzend Schritten blickte er sich um: Berenger und Chersala waren unversehrt. Lasten, Lanzen und Schilde scharrten gegen die Felswand. Nur an wenigen Stellen war der Pfad breit genug, um kurz stehen bleiben zu können. Meist klaffte neben dem Pfad der nasse Abgrund.
    Die Pfade beschrieben entlang der Abstürze unzählige Windungen, sodass die Ritter und Pilger zusehen und hören mussten, wenn auf der anderen Seite der Schlucht ein Tier oder ein Pilger schreiend und mit wirbelnden Gliedmaßen zu Tode stürzte. In der Tiefe vieler Schluchten rauschten schäumende Bäche über mannsgroße Felsen und Steinbrocken, zwischen denen die Körper zerschmettert wurden. Und der Regen strömte ohne Unterlass aus den Wolken. Auf den Rastplätzen verkauften manche Lehensmänner ihre Kettenhemden und ihre Waffen, weil sie, entkräftet und durchnässt, frierend und hungrig, die Last nicht mehr zu schleppen vermochten.
 
    Rutgar und Chersala hockten zwischen ihren Pferden unter einem überhängenden Felsen, über den einige große Äste ihre triefenden Blätter wölbten. Am Stein rann in fingerbreiten Rinnsalen schmutziges Wasser herunter. Der Rauch der Fackel fing sich unter der schrägen Decke. In zwei, drei Stunden würde mit trübem Licht der Tag beginnen.
    Rutgar schreckte hoch, als schwache Huftritte und das Murmeln einiger Stimmen an sein Ohr drangen. Er zog sich am Hals des Pferdes in die Höhe und blieb am Rand des Pfades stehen. Im zuckenden Halbdunkel sah er eine Gestalt, die einen Esel am Halfter zog und ein Sturmlicht trug, und eine zweite, die sich am Sattel des Grautiers festhielt. Die Gruppe schob sich langsam an ihm vorbei; das Murmeln riss ab, und beide Männer erschraken, als Rutgar neben ihnen aus dem Dunkel hervorkam.
    Im gleichen Augenblick erkannte Rutgar unter der tropfnassen Kapuze den Einsiedel. Kukupetros, Peter von Amiens. Sie starrten einander an, die Gestalt am Kopf des Esels blieb stehen. Peter hob den Kopf und sagte leise: »Jean-Rutgar! Mein treuer Wächter! Ich war überzeugt, dass dich der Herr längst in sein Reich aufgenommen hat.«
    Rutgar schüttelte den Kopf und antwortete:
    »Ich lebe. Ich habe dich ein paarmal von fern gesehen.« Er deutete auf den anderen, der einfache Bauernkleider trug. »Dein neuer Beschützer?«
    »Peter Bartholomäus«, erwiderte Peter. »Wir haben uns zusammengetan, um nach Jerusalem zu gelangen. Ich bin schon

Weitere Kostenlose Bücher