Jerusalem
eigene Furcht hinausgewachsen. Berenger kannte anscheinend keine Angst mehr, und Rutgars Träume hatten stets den gleichen Kern: seine weiße Burg, eine Handvoll Goldstücke und ein glückliches Leben mit Chersala ...
Als er die Augen öffnete, sah er jenseits des gilbenden Schilfs die Straße nach Edessa, die sich als Prachtstraße innerhalb der Mauern fortsetzte, bis fast hinunter zum Brückentor. Bohemund und Tancred hatten ihr Lager jenseits der Straße bezogen und richteten sich ein. Knechte hoben einen Graben aus, Handwerker begannen Palisaden einzurammen. Zwischen den Zelten loderten große Feuer, denn es gab Wasser, Brot und Schlachtvieh in großen Mengen.
Rutgar setzte sich im Sattel zurecht, berührte mit den Sporen die Flanken des Pferdes und trabte weiter, in weiten Windungen des Pfades bis zur Straße und nach Osten. Er prägte sich jeden Felsen, jede Baumgruppe, jedes Stück Weide unter der Mauer ein. Die Stadt war ein gewaltiges Bollwerk, wie eine unübersteigbare Felswand. Das Heer würde vor diesen Mauern und Türmen verhungern, verdursten und verbluten.
Er sah eine Gruppe langbärtiger und zottelhaariger Männer in abgerissenen Kleidern, barfuß oder mit Lumpen an den Füßen. Einige waren fast nackt, und nur ihr langes Haar wärmte sie.
Die abscheulichen Tafuren, dachte er. Arme Kerle; niemand wusste, woher sie kamen und wessen Glaubens sie waren. Sie bezeichneten sich als die wahren Christen, folgten dem Heer seit einigen sieben Tagen und führten die niedrigsten Arbeiten aus. Jetzt fällten sie mit Werkzeugen der Ritter kleine Bäume und schlugen sie zu Palisaden zurecht. Plebs pauperum, die Armen in Christo. Sie verlangten keinen Lohn und kämpften ebenso todesmutig wie Ritter und Bischöfe und Mönche. Sie schienen die Bedürfnislosigkeit zu lieben und sich nur nach dem himmlischen Jerusalem zu sehnen - im Kampf waren sie rasend, opferten sich in besinnungsloser Wut. Welche Bedeutung der Erfolg der Belagerung Antiochias für das Ritter- und Pilgerheer hatte, war selbst dem roi d'Tafur, ihrem Anführer, einem freiwillig verarmten normannischen Ritter, abgrundtief gleichgültig. Rutgar, ebenso wie die anderen Soldaten, wusste nicht recht, ob er sie verachten oder fürchten sollte.
Am Fuß des Berges, jenseits von Bohemunds Lager, wo die Mauer mit ihren Wachtürmen anstieg, wendete Rutgar sein Pferd. Zwischen dem Lager und der Stadt stand, abweisend und uneinnehmbar, eine Seldschukenfestung, von Tancred »Malregard« genannt. Überall, auf jedem Fuß Mauer dieses Stadtteils, sah Rutgar muslimische Wachen. Sie beobachteten argwöhnisch jede Bewegung der Franken.
»Zurück zum General«, murmelte er, tätschelte den Hals des Schwarzen und winkte den anderen Reitern. Sie legten den verschlungenen Weg im kräfteschonenden Galopp zurück. Drei Ausfalltore - Hundstor, Sankt-Pauls-Tor und das Herzogtor, nach Herzog Gottfried benannt - waren belagert, das Brückentor und das breite Sankt-Georgs-Tor blieben noch unbewacht. »Aber auch die Waräger und Petschenegen werden keinen schnellen Sieg herbeiführen können.«
Als er im Lager eintraf, hatten sich bei Tatikios die Fürsten versammelt und beredeten, wie die Belagerung anzufangen und was zu tun sei: Selbst der General wusste, dass die Belagerung schwer werden und lange dauern würde - viele Wochen, wahrscheinlich einige Monde, wahrscheinlich bis lange nach dem Christfest. Heute schrieb man den 23. Tag im Weinmond.
Fast genau nördlich der Stadt und des Lagers Gottfrieds von Bouillon, wo das Flussufer sich zum Sumpf weitete, unweit seines Lagers, ließ Tatikios von seinen Männern und einer schuftenden Hundertschaft Tafuren aus schnell gezimmerten Booten und grob behauenen Baumstämmen eine Schiffsbrücke errichten. Im herbstlichen Niedrigwasser des Orontes entstand ein Bauwerk aus Balken, Seilen und langen Eisennägeln, breit genug, um Rittern in Viererreihen den Übergang zu ermöglichen. In fieberhafter Arbeit verschanzten sich die Heere in ihren fünf Lagern, während die Seldschuken, von Tatikios' Spähern beobachtet, durch die unbewachten Tore Proviant, Waffen und Truppen in die Stadt schafften. Im Westen, Süden und Osten verschmolzen die Mauern mit dem Fels des Berges. Es war keinem Menschen möglich, die Stadt auf der Südseite zu erobern, und überdies krönte den höchsten Punkt der Mauer im Stadtinneren ein begrünter Berg, auf dem sich die Festung ausdehnte.
Berenger kam hinter der Brustwehr hervor und deutete über die Spitzen
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