Jerusalem
Orontes flussaufwärts auf das Gebiet zu, wo die blau-goldenen Fahnen geschwenkt wurden, auf dem das Lager des Generals entstand.
Die Trompeten bliesen zum Sammeln. Fahnen wirbelten durch die Luft, Ritter schrien Befehle. Langsam ritten die Kämpfer auf dem östlichen Ufer zur Straße und auf die Brücke zu. Der erste Kampf gegen die Seldschuken war beendet, die Verteidiger getötet oder vertrieben. Der Weg über den Fluss und die Straße zur Stadt lagen ungeschützt vor dem Heer; am nächsten Tag erwarteten Adhemar von Le Puy und Herzog Robert die Ritter und den Tross Bohemunds und den Rest der bewaffneten Pilger.
Jean-Rutgar ließ den Schild sinken und zupfte am Zügel. Langsam drehte sich der Rappe und stellte die Ohren auf. Boten und Kundschafter sprengten in sicherer Entfernung von den Wachttürmen auf kaum erkennbaren Pfaden einher. Schwerfällig folgten ihnen die Gepanzerten und der Tross der Heeresteile. Die Haufen der Pilger drängten sich hinter dem Tross zusammen und staunten die Mauern und Türme an; die Kreuze in den Armen der Mönche schwankten wie im Sturm. Von der Mauerkrone schrien die Verteidiger Flüche und Schmähungen herunter.
Rutgar und fünf Späher hatten von Berenger den Befehl erhalten, das Land entlang der Mauern zu erkunden, so gut es ging; wo gab es Verstecke, Höhlen, Quellen, oder wo boten sich Möglichkeiten, die Mauern zu überwinden? Sie ritten entlang des Baches im Norden der Stadt, wo Raimund von Toulouse gegenüber dem Hundstor sein Lager aufschlug, vorbei am Lager Gottfrieds von Bouillon, der unterhalb einer Burg oder Festung im Nordosten die Zelte aufbauen und einen Schutzwall anlegen ließ.
Im Licht der Morgensonne zeigte sich Rutgar ein gewaltiges, farbiges Bild, das gleichermaßen Bedrohung wie Unverwundbarkeit ausstrahlte: Es war den Christen unmöglich, die Stadt völlig zu umschließen. Im Süden, vor den Bergen, hätten sie, um den Fuß der kühnen Mauern zu erreichen, erst einen steilen Felsenberg ersteigen müssen. Wo im Nordwesten der Berg Silpius in die Ebene überging, beim Sankt-Pauls-Tor, wuchsen die Zelte Bohemunds in die Höhe. Im Morgenwind knatterten Leinwände und das Fahnentuch; die Stadt war vom Lärmen der Kriegsknechte und ihrer Werkzeuge umgeben. Von den Mauerkronen und aus den Türmen beobachteten Seldschuken die Anstrengungen. Noch war im Westen die Straße nach Sankt Simeon, zum Meer und zum Hafen, in der Hand der Muslime.
Rutgar ritt voraus; er war allein mit sich und seinen Gedanken. Sein Rappe ging ruhig zwischen seinen Schenkeln, der Hufschlag war auf dem feuchten Gras kaum zu hören. Rutgar gähnte; blickte er zu den Türmen, über den Sumpf zum Hundstor, vom Norden nach Süd zur Oberstadt, dachte er träge an Erdbeben, stürzende Mauern, an das Ende der Welt und den Untergang aller Menschen, den die Prediger mit flammenden Worten verhießen. Die Welt, sagte er sich, würde nicht untergehen, trotz Zeichen am Himmel und der ständigen Drohung von Krankheit, Tod und Verderben. Aus unerforschlichen Gründen sah Gott dem Sterben und dem Elend ungerührt zu, der Rohheit der Schwertkämpfer, dem Wüten der Seldschuken und der besessenen Entschlossenheit zu Angriff und Tod. »Memento mori«, sangen die Priester, »gedenket, dass ihr sterblich seid!«, und es war wahrhaftig ein Wunder, dass er, Rutgar, Chersala und Berenger noch lebten. Sie lebten auch, weil sie mit ihrer Kraft und ihrem Können bedachtsam umgingen - trotz aller Versuche der Muslime, mit wohlgezielten Pfeilen ihr Leben auszulöschen.
»Nein«, murmelte Rutgar und sah, wie ein Trupp Seldschuken die Stadt durch das Sankt-Pauls-Tor verließen. Späher. Kundschafter, dachte er. »Wir werden auch dieses Bollwerk und die Belagerung überleben. Dank Tatikios' großer Klugheit.«
Schaudernd dachte er an einige der schlimmsten Nächte auf dem langen Elendsmarsch. In der grausamen Finsternis, wenn auch die letzte Glut zischend erloschen war, hatten sie gespürt, wie unbedeutend sie unter dem erstickenden Schild des Firmaments waren, wie die Einsamkeit sie zu erdrücken drohte, und dass nur ein Windstoß sie von der Auslöschung trennte. Aber an jedem Morgen war die Sonne wieder erschienen, und Rutgar erkannte, dass der Herr sie nicht zu sich gerufen hatte. Wer so viele Tage überlebt hatte, durfte sich zu den Auserwählten zählen. Zu jenen, die auch vor den Mauern dieser Stadt nicht starben, die so groß zu sein schien wie Konstantinopel.
Rutgar, Chersala und Berenger waren über ihre
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