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Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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begann Thybold nach einer Weile, »dass sich unsere Herren, wie es bestimmt war, am ersten Tag des Windmondes auf den Weg nach Jerusalem machen.«
    Seit dem Begräbnis Bischofs Adhemar von Le Puy entbehrte das Heer der Franken jeglicher Führung. Jedermann vermisste den Basileus, einen General Tatikios oder einen christlichen Befehl des Papstes Urban. Aber der Zwang, den nächsten Tag zu überleben, bestimmte selbst Berengers Verhalten angesichts eines Heeres, dessen Stärke durch die Kämpfe und die Seuche halbiert worden war.
    »Wisst ihr ...«, sagte Rutgar und zupfte Heuhalme aus der Mähne seines Rappens, »Chersala ist mir gefolgt, weil sie mich liebt. Ich wiederum folgte zuerst Peter von Amiens und dem Bischof von Le Puy, die mit Gottes Hilfe die Heilige Stadt und Christi Grab von den Ungläubigen befreien wollten. Aber für die ehrgeizigen Fürsten sind wir nur Mittel zum Zweck.«
    »Da hast du recht, Ritterlein«, sagte Berenger. »Auch der Angriff auf Albara hat nichts zu schaffen mit dem Sieg unseres wahren Glaubens.«
    »Gold, Proviant; Sklaven, die mehr Gold bringen ...«, sagte Rutgar.
    Berenger hob zustimmend die Hand und starrte in Rutgars Gesicht. »Von der weinerlichen Bibelfestigkeit des Kukupetros hast du dich, gottlob, gelöst, Rutgar«, sagte er halb schroff, halb verständnisvoll. »Aber das macht's auch nicht leichter.«
    »Zuvor, in Konstantinopel und in Drakon, war alles einfacher.« Rutgar dachte an den langen Winter und seine eigene Seelenruhe. »Damals, da waren wir nur wenige, die überleben mussten. Jetzt sind's viele Tausende und endlos mehr Mühen und Plagen geworden.«
    Sterben und Tod waren seit vielen Monden alltäglich. Der erste verstümmelte Leichnam war ein entsetzlicher Anblick; der tausendste kaum mehr als eine tägliche Erfahrung. Rutgar dachte an unzählige erschlagene Muslime, von den Tafuren verscharrt, und an die toten Christen, die in den Gräbern der Auferstehung des Fleisches harrten.
    »Plagen und Hunger, Krankheit und viele Gräber«, sagte Berenger und deutete auf die flache Landschaft neben der Straße. Bis zu den Hügeln erstreckten sich abgeweidete und abgeerntete Felder. »Im Morgengrauen werden die Herren das Städtchen angreifen. Mehr Gräber für Korn und Braten.«
    Späher hatten berichtet, dass in Albara eine muslimische Bevölkerung lebte, ohne Christen, wie in Antiochia. Die Mauern würden einer Belagerung kaum standhalten; leichte Beute für die Franken.
    »Ich ahne«, sagte Thybold, »dass sich die Bewohner ergeben werden. Wir haben es schon so oft erlebt.«
    »Das wird ihr Leben retten«, murmelte Rutgar.
    Berenger lachte. Rutgar kannte und fürchtete diese Art bösen Gelächters seines Freundes. »Glaubst du daran? Bisher haben unsere Fürsten kaum einmal ihr Wort gehalten, wenn sie's den Sarazenen gegeben haben.«
    »Reiten wir weiter«, sagte Rutgar knurrend. »In drei Tagen wissen wir, was wir glauben müssen.«
 
    Jedes Stück Stoff des Zimmers, das von schrägen Sonnenstrahlen durchflutet wurde, roch nach Rosenwasser und nach den Blüten, die in großen Wasserschüsseln schwammen. Chersala hatte sich auf den Kissen ihres Lagers ausgestreckt, lag regungslos unter einem dünnen, feuchten Tuch, ein zweites Tuch über dem Kopf. Kühle und Dunkelheit machten sie schläfrig, vermochten das schmerzende Zerren in ihren Eingeweiden aber nicht zu lindern. Und auch nicht die nagenden Gedanken, die Zweifel, die dahingeschwundene Hoffnung - in der Ruhe und der Grabesstille, die nach dem Ende der Seuche über diesem Teil der Stadt herrschten, waren sie unüberhörbar.
    Vielleicht trug sie Rutgars Kind. Aber ihre letzte Unreinheit war nicht ausgeblieben. Vielleicht war sie krank geworden. Oder das Essen war verdorben gewesen. Zum Schmerz gesellte sich die Ahnung kommenden Unheils; ein inwendiger Schatten, nachtschwarz und lastend, eine dräuende Ahnung der Sünden, die sie begangen hatte. Welche Sünden?
    Jeder Reiter der Kundschaftertruppe wusste längst, dass der Knappe Cherso eine Frau war, Chersala hieß und die Liebste Ritter Rutgars aus der Provençe war. Bisher hatte kein Reiter gewagt, sie anzurühren. Manche bewunderten Rutgar deswegen, einige hatten abfällige Worte für dieses Versteckspiel gefunden. Dennoch fühlte sie sich in dieser kriegerischen Gemeinschaft, abseits der fränkischen Heere, so sicher, wie eine Frau sich nur fühlen konnte.
    Sie hatte auf ihrer entbehrungsreichen Reise vieles gesehen und erlebt und glaubte, das Weinen verlernt zu

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