Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jerusalem

Titel: Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
Vom Netzwerk:
haben. Die Tage nach dem Wüten des allgegenwärtigen Todes sollten genügen, dass sie sich erholte und so viel wie möglich vergaß. Ihr Leib hatte überlebt, aber ihre Seele hatte Schaden genommen. Mitunter misstraute sie selbst denen, die sie liebte.
    »Die Tücher ...«, murmelte sie und richtete sich auf. Leichter Schwindel ließ vor ihren Augen die Truhen, Vorhänge und Wandverzierungen kreisen. »Sie sind trocken, so schnell ...«
    Als Chersala ihre Stirn berührte, fühlte sie, dass sie fieberte. Sie tauchte die Tücher ins Wasser, wrang sie aus und zog sie, dankbar für Kühle und Halbdunkel, über ihren Körper und das Gesicht. Ihr Haar, von Aynur, einer jungen armenischen Dienerin, gepflegt, war wieder glatt und schulterlang, die Haut weich und sonnengebräunt, die Schwielen und die Spuren kleiner Verletzungen vergangen. Sie litt weder Durst noch Hunger; es war fast wie in den Tagen von Drakon, in denen sie Jean-Rutgar gezwungen hatte, sie mitzunehmen. Hätte sie's nicht tun sollen? Sie horchte in sich hinein, fand aber nur Erinnerungen und nicht die Wahrheit.
    Die Lichtstrahlen, die durch die Zwischenräume der geschnitzten Läden drangen, waren über die Teppiche gewandert und krochen die Wand hinauf. Die Geräusche aus dem Inneren des Hauses, des Hofes und der Ställe vermengten sich zu einem einschläfernden Summen, das an ein halb vergessenes Lied der Mutter erinnerte. Auch das unentwegte Hämmern der Schmiede, die Pferde beschlugen und Waffen schärften, erinnerte Chersala an zu Hause. Innerhalb der Welt, mitten zwischen den Feinden, von Mauern umschlossen, war die Unterkunft der Tatikios-Reiter wie eine Insel des Friedens.
    Chersala dämmerte in einen Traum hinein, aus dem sie fröstelnd erwachte. Stechender Schmerz wütete hinter ihren Schläfen. Sie zwang sich, Aynurs warmen Aufguss zu trinken, und begann sich schuldig zu fühlen, weil sie glaubte, dass sie krank war und sterben musste. Tief versteckt in ihrem Körper hockten Dämonen, die ihre Benommenheit verschuldeten. Die Sühne für ihre Sünden, dachte sie gequält. Dass sie Rutgar liebte und nicht auf die Priester hörte? Oft hatte sie gebetet und Gott angerufen, aber der Herr gab keine Zeichen. Er schwieg, wie zu der Tötungsbereitschaft der Ritter und ihres Gefolges.
    Vergeblich suchte sie in ihren Gedanken nach Worten, um Rutgar sagen zu können, was sie fühlte. Bald würde er zurückkommen, und in seinen Armen, mit Berengers klugem Rat, würde sie gesund werden.
 
    Als sich die Späher in einer weit auseinandergezogenen Linie der Stadt näherten, sahen sie, dass die Raubzüge während der Belagerung ihre Spuren zurückgelassen hatten. Die Waldränder waren gelichtet, nicht wenige Felder verbrannt, einigen Bauernhäusern fehlten Dächer, und es gab kaum Vieh auf den spätsommerlichen Weiden. Albara, auf einem Hügel erbaut, schien ausgestorben zu sein; von den Türmen des Stadttores hingen schlaffe Fahnen in den Farben des Islam.
    »Ich sehe, dass sie ihr Tor weit geöffnet haben«, bemerkte Berenger, als sie über eine schmale Bohlenbrücke ritten und zwischen uralten Mauer- und Säulenresten hervorkamen. »Sie haben Raimunds Heer gesehen und werden sich ergeben.«
    Rutgar nickte. Hinter ihnen erscholl wüster Lärm; Angriffsschreie und die Rufe »Toulouse! Toulouse!«. Berenger zog sein Schwert aus der Rückenscheide, stieß einige Pfiffe aus und bedeutete seinen Reitern, auszuweichen und die Truppe des Grafen von Saint-Gilles durchzulassen. Sein Gesicht drückte Abscheu und Verzweiflung aus. Auch Rutgar ahnte, was geschehen würde. Er lenkte seinen Rappen zur Seite, auf einen Pfad zwischen einem frisch gepflügten Acker und einer vertrockneten Weide. Das Poltern von Pferdehufen wurde lauter, der Boden begann zu dröhnen.
    Rutgar schirmte die Augen mit der flachen Hand, als er sah, dass sich eine Menschenmenge aus dem Stadttor schob. Viele Muslime waren festlich gekleidet und trugen Fahnen, gefüllte Körbe und glänzende Metallkrüge.
    »Sie haben keine Waffen!«, schrie Berenger, der in den Steigbügeln stand. Die Ritter achteten weder auf seine Zeichen noch auf seine Worte. Sie galoppierten über die Brücke und durch das Wasser des mäandernden Bächleins, Schwerter und Kampfäxte in den Händen, die Lanzen schräg, mit weit aufgerissenen Mündern, leeren, hungrigen Augen und auf schwitzenden Pferden mit schäumenden Gebissen. Obwohl das kleine Heer durch die Verwundeten und Toten der Belagerung und die Pestopfer mehr als

Weitere Kostenlose Bücher