Jerusalem
auf, Herr.«
Plötzliche, unbestimmte Furcht griff ihm ans Herz. Er war fortgeritten, wo es doch seine Aufgabe war, sie zu beschützen! Auf Zehenspitzen ging er in das dämmerige Zimmer. Chersala lag reglos ausgestreckt unter schweren Decken und ihrem Reitermantel. Ihr bleiches Gesicht war schweißbedeckt. Sie atmete gleichmäßig, aber keuchend. Fieber, dachte Rutgar, hoffentlich ein heilendes Fieber, denn sie hatte noch vor Kurzem vor Kälte gezittert. Hinter ihm war Aynur hereingekommen und stellte einen großen Tonkrug und Chersalas Silberbecher auf den Tisch.
»Sie muss viel trinken«, flüsterte sie und zupfte ihn am Ärmel. Er warf einen langen Blick auf das wächserne Gesicht seiner Liebsten und erschrak bis ins Innerste. Sie sah aus wie eine Tote. Leise verließ er das Zimmer, schloss die Tür und setzte sich auf eine Treppenstufe.
»Bring mir etwas zu trinken«, sagte er verzweifelt. »Kalten Sud oder Wasser.«
»Sofort, Herr.« Sie huschte auf nackten Sohlen davon.
Rutgar stützte den Kopf in die Hände und versank für eine Weile in dem Lärmgebrodel der Unterkunft. Spät und auf unbekanntem Weg, als in Antiochia niemand mehr an der Seuche gestorben war, hatte sie sich Chersala gegriffen. War Chersalas Krankheit die Strafe dafür, dass er und sie alle Gebote des christlichen Zusammenlebens missachtet hatten und in Sünde zusammenlebten? Die Strafe für ihre Liebe?
Gedankenlos leerte er einen Becher honigsüßen Sud nach dem anderen und hoffte auf ein Wunder. Aber der Herr gab keine Antwort auf seine stummen Fragen.
Kapitel XXIX
A.D. 1098 UND 1099, ZWISCHEN W INDMOND (N OVEMBER )
UND W EIDEMOND (M AI )
V ON A NTIOCHIA ZUM H UNDEFLUSS
»Mit der einen Hand taten sie ihre Arbeit, in der anderen führten sie das Schwert.«
(Neh 4,11)
Jean-Rutgar betrachtete, das Herz voll quälender Sorge, das wachsbleiche Gesicht seiner Liebsten. Chersalas Fieber kochte noch immer in ihrem Körper. Sie sah aus, als sei sie dem Tod nahe: Ihre Haut war durchscheinend geworden und trocken wie Pergament. Sie schlief unruhig, schwitzte und trank viel Wasser, Sud und Brühe und schien Rutgars Hand nicht zu fühlen, selbst wenn er den Schweiß von ihrer Stirn wischte. Stundenlang wichen er und Aynur nicht vom Lager Chersalas.
Während Rutgar im Licht dreier Kerzen den Federkiel zurechtschnitt und den keuchenden Atemzügen Chersalas lauschte, begann er ein wenig zu rechnen. Fast vier Jahre war es nun her seit jenem denkwürdigen Konzil von Clermont. Nun, nach fünfzehn Monden der verlustreichen Belagerung Antiochias und ein halbes Jahr nach dem blutigen Sieg, begann das Ziel des Kreuzzuges erstmals in greifbare Nähe zu rücken. Aber Bischof Adhemar von Le Puy, der geistige Anführer aller Heere, war ein Opfer der Seuche geworden und nicht mehr da, um als Schlichter zu wirken, und so begannen die Fürsten erneut zu streiten.
Ich, Jean-Rutgar, füge dieses Schreiben dem vorherigen bei und hoffe, dass beide Pergamente nicht verlorengehen.
Sie ließen einen Bittbrief an Papst Urban schreiben, des Inhalts, er möge selbst dem Zug der Heere nach Jerusalem voranreiten. Auch schilderte der Schreiber, wie Antiochia erobert worden war. Auf die Antwort indessen würden die Fürsten so lange warten wie auf jeden Brief dieser Art.
Im Weinmond überfiel Graf Raimund die Stadt Albara, versklavte und tötete die Bevölkerung und machte die Moschee zur christlichen Kirche. Peter von Narbonne wurde zum Bischof gewählt, und so weihte ihn der griechische Patriarch Johannes von Oxeites, den Yaghi-Siyan einst im Käfig über die Mauern gehängt hatte.
Raimund von Toulouse kam zurück nach Antiochia, als der Graf von Flandern und der Herzog von der Normandie schon Quartier genommen hatten. Gottfried von Bouillon ritt von Edessa hierher, gefolgt von Bohemund, der gesundet war. Im Rat der Herren forderte er die Herrschaft über Antiochia, und abermals brach Streit unter den Fürsten aus. Die Uneinigkeit erboste die Soldaten des Heeres, sodass sie drohten, die Mauern der Stadt niederzureißen.
Soldaten und Pilger hatten viel zu lange darauf gewartet, ihr Gelübde zu erfüllen, nämlich unverzüglich die Reise nach Jerusalem wieder zu beginnen. Peter Bartholomäus bedrängte die Fürsten mit drängenden Worten. Der Vertreter des Basileus, der Kommandant der Stadt, hatte lange versucht, die hitzig lärmenden Fürsten mit gutem Rat zu überzeugen.
Schließlich gewährten die Fürsten Bohemund von Tarent die Herrschaft über die
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