Jerusalem
Peter zu Rutgar, sah er das Meer.
Im weißen Kirchlein der »Jungfrau vom Leuchtturm« wurden der Schrein mit dem Grablinnen Christi vor den Blicken der Neugierigen gehütet, ebenso das Schweißtuch der Veronika, die Heilige Lanze, die Dornenkrone Jesu sowie Nägel und ein großes Stück des Heiligen Kreuzes; ferner lagen dort die zwölf Körbe der wunderbaren Brotvermehrung, Gebeine der ermordeten Kinder Bethlehems und andere wundersame Reliquien. Man gewährte Peter aber keinen Eintritt und vertröstete ihn auf einen anderen Tag.
Erst am dritten oder vierten Tag in Konstantinopel, nach insgesamt vielleicht fünfzehn, zwanzig Stunden des Umherwanderns, Fragens, Staunens und ungläubigen Wunderns vermochte Rutgar die Größe, den Reichtum und die Schönheit der Stadt ein wenig zu verstehen.
Er saß neben Munsard, einem Waräger, auf der obersten Stufe eines Brunnenbauwerks im Schatten einer großen Palme. Munsard war erschöpft von seinen Antworten auf Rutgars Fragen. Der Anblick der vielen Menschen aus allen Teilen der Welt verwirrte Rutgar; noch nie hatte er schmuckbehängte Frauen und stolze Männer gesehen, deren Haut dunkelbraun oder sogar schwarz glänzte, und noch nie war er der Wirklichkeit seines Traums so nahe gewesen. Nie gekannte Laute, Wohlgerüche und Musik drangen aus jedem Haus. Der Basileus empfing Abgesandte von den Grenzen seines Reiches in drei oder vier Palästen; mit prunkvollem Gefolge zog er hierhin und dorthin. Der gemauerte, überdachte Basar, durch den ihn Munsard geführt hatte, war größer als jeder Markt, den er je gesehen hatte. Hier handelten die reichen Bewohner mit den kaum weniger begüterten Händlern um eine Flut von Waren, von denen Rutgar weder Namen noch Zweck kannte. Kostbare Stoffe, wahre Rankengirlanden aus Gold- und Silberschmuck, unbekannte, unbezahlbar teure Gewürze in mannshohen Tonkrügen, Fässern und Säcken verwirrten den Geruchssinn, und glänzendes Geschirr in vielen Farben, verziert mit staunenswerten Bildern, stapelte sich vor seinen Augen.
Unbekannte Früchte, unbekanntes Gemüse, Käse, Würste, Fisch und Fleisch, Brot und Zierbrote, Süßigkeiten, Wein und lebendes Geflügel, Rauch und Gerüche von Rosten über Glutbecken, tausend Rufe fremder Stimmen, Gelächter, schrille Schreie ... es war Rutgar, als wandere er durch einen Traum, dessen Farbigkeit und unaufhörliche Bewegung ihm den Atem raubte.
Konstantinopel war mit nichts zu vergleichen, was er kannte, und so glaubte er, was der Waräger gesagt hatte: Es war die größte und schönste, reichste und lebenswerteste Stadt der Welt.
Am späten Abend des nächsten Tages, als über den Flammen des Lagerfeuers das Wasser im Kessel zu summen anfing, führten die Jünger des Eremiten zwei Männer zu der Hütte, in der Peter und Rutgar hausten.
Rutgar erkannte einen Mönch aus dem Gefolge des Ritters Sinehabere. Er hatte ihn erwartet, denn Peter von Amiens hatte von Ritter Walter einen Bericht über jenen Zwischenfall verlangt, der im ungarischen Semlin den Tod von so vielen Pilgern und Kriegern verursacht hatte.
»Ich bin Frater Godehard«, sagte der Mönch und raffte seine Kutte, als er sich auf die wacklige Bank setzte. »Du bist Jean-Rutgar, der Beschützer des Predigers?«
»Der bin ich«, antwortete Rutgar und grüßte den hellhäutigen Bewaffneten, der schweigend neben dem Mönch stand. »Und wen hast du mitgebracht? Er scheint ein Wächter aus dem Kaiserpalast zu sein.«
Der hochgewachsene, flachshaarige Mann in glänzender Rüstung, aber ohne Helm, schob die Daumen hinter den Waffengurt und nickte, dann sagte er:
»Ich heiße Roger. Hauptmann der Warägergarde. Wir schützen den Basileus Alexios. Ich spreche eure Sprache, denn ich bin Franzose. Einer von wenigen in der Garde, die anderen sind Engländer. Wir sind Botenreiter; Späher und Kundschafter, die vielleicht mehr wissen als du, Rutgar.«
»Das bezweifle ich nicht.« Rutgar grinste und deutete auf einen Steinblock im kniehohen Gras. »Ich weiß nämlich gar nicht viel. Aber lass erst Bruder Godehard berichten.«
Der hellhäutige, bartlose Waräger nickte, setzte sich und sah zu, wie sich eine Handvoll Pilger und Männer aus dem Gefolge der Ritter um das Feuer scharten. Einige setzten sich, andere warteten, bis die Helferinnen Peters den Kessel vom Feuer zogen und Honig in das Gebräu rührten. Als der süße Pflanzenaufguss aus den Bechern dampfte, begann Bruder Godehard zu erzählen. Peter und Rutgar hörten schweigend zu,
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