Jerusalem
plündern, will der Kaiser sie so schnell wie möglich in unser Land schicken, statt sie an Ort und Stelle für ihre Taten zu strafen! Der kaiserliche Hofmeister hat seinem Herrn berichtet - hier, o Sultan, ist die Abschrift deines unwürdigen Spähers vom Pergament eines schreibkundigen Ungläubigen namens Rutgar! -, wie groß die Schäden sind. Auch die Namen mancher Übeltäter findest du auf dem Pergament: Der Eremit und der Habenichts, dazu die Anführer der Ungläubigen: Burel, Breteuil, Rainald der Beutelschneider, Hugo Thüringen, Heinrich Schwarzenberg, Walter Teck; allesamt, sagt man, sind sie Sheiks der Ungläubigen, Grafen also, auch die beiden Räuber, Grafensöhne von Zimmern, Brandis, Wilhelm Poissy, viele Söhne jener Effendis, die auf dem langen Weg aus den Ländern der Ungläubigen viele der Ihren verloren haben. Allah in seiner unermesslichen Weisheit wird sie gerichtet haben, so wie er es auch mit jenem Gesindel tun wird, wenn es seine stinkenden Füße auf den geweihten Boden des Propheten setzt ...«
Rutgar setzte sich mit einem Ruck auf. Die Flammen des Traumbilds zerstoben, die Farben wichen der Schwärze, und er kehrte langsam, die bitteren Traumbilder verkostend und vergessend, in die Gegenwart der Nacht zurück. Er schob einen Ast in die Glut und wartete, bis das dürre Holz Feuer fing; am Ende der Schlucht sah er die Flammen zweier blakender Fackeln.
Ein weiteres wunderbares Zeichen des Allmächtigen, dachte Rutgar. Das Licht, das die Sonne mit blitzender Schärfe auf das fremde Land herunterstrahlte, war anders, heller oder weißer als im Norden. Selbst die harten Schatten erinnerten ihn an seine Heimat, ebenso die Gerüche, die das dornige Buschwerk verströmte. Nachts lag sternflirrende Finsternis über den Pilgern, und unbekannte Bilder aus strahlenden Himmelslichtern, durch die der Mond wanderte, erschreckten die Menschen. Die Milchstraße leuchtete wie ein funkelnder Strom, an dessen Ufer, jenseits des Horizonts, das ersehnte Jerusalem lag. Die Nächte waren wolkenlos; von Tag zu Tag nahm die Sorge zu, in der Fremde zu sterben oder verloren zu gehen.
Das leere Land schien die tausendköpfige Menschenmenge geschluckt zu haben, ohne dass sie Spuren hinterlassen hatte. So schien es auf den ersten Blick, aber es war nicht schwer, entlang der Küste bedenkliche Zeichen der Zehntausenden zu finden. Als die Pilger das Tal verließen, hatten sie völlige Verwüstung hinterlassen; alle Fliegen, Asseln, Mücken und Käfer südlich Konstantinopels wimmelten zwischen dem Unrat, auf dem von Urin und Kot gesättigten Boden, in der Asche der Feuerstellen und auf den achtlos liegen gelassenen Häuten der Schlachttiere. Einige Gräber waren aufgeworfen und trugen Aststücke als Kreuze. Die Schafe, Ziegen, Maultiere, Esel und Pferde hatten jeden Grashalm gefressen; die Steinwälle der Tümpel waren eingerissen, das Wasser des Bächleins floss wieder kalt und klar. Nach wenigen Tagen hatten die Menschen, nur um ihren Hunger zu stillen, ein großes Stück Land leer gefressen, samt der Blätter und der Rinde an den Bäumen; diese Bilder vor Augen fühlten sich Ritter und Knappen aufgefordert, die Dörfer zu plündern.
Kapitel IX
A.D. 1096, EIN T AG IM E RNTEMOND (A UGUST ),
IN DER M ITTAGSSONNE
N IKOMEDIA UND C IVETOT , IM G RENZLAND DER S ELDSCHUKEN
»Er wird die Heiden, seine Verfolger, fressen und ihre Gebeine zermalmen und mit seinen Pfeilen zerschmettern.«
(4. Mose 24,8)
Asien. Terra incognita. Die Pilger waren im unbekannten Grenzland, in heidnischem Land. Während sich der Pilgerzug entlang der schmalen Bucht dem Sonnenaufgang entgegenschleppte, erfuhr Peter der Eremit von einem seiner Begleiter, der neben ihm an der Spitze ritt, was es mit dem Ort Nikomedia auf sich hatte. Der junge Mann berichtete, was man ihm in Konstantinopel erzählt hatte: Vor fünfzehn Jahren hatten türkisch-seldschukische Truppen die Siedlung überfallen und ausgeraubt. Seit diesem Überfall lag Nikomedia am Golf gleichen Namens verlassen inmitten verwahrloster Felder und verkrauteter Äcker. Nur wenige Ölbäume trugen schwer an ihren prallen grünen Früchten. Schon am Morgen hatten sich drei Gruppen vom Zug gelöst. Konrad und Albert von Zimmern führten die Bewaffneten an, der dritte Trupp ritt mit Graf Rudolf von Brandis und dem hageren Walter von Teck. Sie waren in vollem Galopp verschwunden, ehe Peter sie zurückhalten konnte.
»Was soll das werden?«, fragte er Walter Sans-Avoir, der sein Pferd
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