Jerusalem
neben ihm im Schritt gehen ließ. »Warum galoppieren sie davon?«
»Vergiss nicht, Peter: Wir brauchen Proviant und einen Lagerplatz. Und hier soll's viele gastfreundliche Menschen geben, nicht nur diese Seldschurken.«
»Seldschuken. Mir und meinen Pilgern würde es schon guttun, ebenso wie Euch, wenn wir Unterkunft und Ruhe hätten«, antwortete Peter. »Einen Platz, an dem wir auf das große Heer der Fürsten warten.«
»Wer viel suchet, der findet etliches.« Sans-Avoir lockerte den Zügel. »Wir werden die Ungläubigen finden, und ein Feldlager auch. Bring du unsere Leute nach Nikomedia!«
Er sprengte davon, wendete in einiger Entfernung sein Pferd und wartete ungeduldig gestikulierend auf die Reiter, die ihn begleiten sollten. Peter zählte zwei Dutzend Bewaffnete zu Pferde und vier, fünf Dutzend Männer, die ihnen zu Fuß folgten. Peter atmete schwer ein und aus, senkte den Kopf und gestand mit abwehrenden Gesten seine Unfähigkeit ein, den Rittern Einhalt zu gebieten.
Die vielen Tausende bewegten sich von einer der seltenen Wasserstellen zur nächsten. Bislang war niemand verdurstet; auch die Tiere litten keine Not. Aber das karge, durchglühte Land gab kein Essen, keine Nahrungsmittel her, keine Wildtiere oder Herden, nur Beeren und unreife Ölbaumfrüchte. Also musste der Pilgerzug ständig in Bewegung bleiben, sonst verhungerten die Gläubigen. Durch Staub und gnadenlose Hitze schleppte sich der Zug der Gläubigen, stets das tiefblaue Wasser der Bucht im Blick, zur rechten Seite, nach Osten.
Im Heer gärte es wie frischer Most; wenn die Wanderer nicht so sehr von Durst und Hitze erschöpft gewesen wären, hätten selbst Peters Predigten den Ausbruch massenhaften Wahnsinns nicht verhindern können.
Es gab nur eine nahezu unkenntliche Straße, die zum verlassenen Ort führte, und auf diesem Schlängelweg, der mit Steinen und Geröll übersät, voller Löcher und halb zugewachsen war, näherten sich die Pilger Schritt um Schritt dem Städtchen. Die größte Anzahl Menschen, dachte Rutgar hilflos, die je dieses leere Land bevölkert hatte und erfolglos versuchte, sich aus diesem Landstrich zu ernähren.
Es ließ sich trefflich grübeln, während der Rappe müde im Schritt ging und seinen Pfad selbst fand. Jean-Rutgars Glaube an die Reden der Priester und Mönche, die sie mit brünstiger Gewissheit führten, war nicht erst während der letzten vier Monde stark geschwunden. Ob Christi Wiederkehr bevorstand, wie schier jedermann fest glaubte, fragte er sich spätestens seit seiner Zeit in Cluny. Es gab in seinem Leben wenig oder nichts Verwerfliches, was er getan hatte. Also hatte er auch keine Todsünden auf dem Gewissen, die durch die bewaffnete Pilgerfahrt abgebüßt werden könnten, und das Goldene Jerusalem war sicherlich nicht prächtiger als Konstantinopel. Seit er von Raubzügen und gottlosen Massakern an den Juden erfahren hatte, wusste er, was die meisten Ritter antrieb, sicherlich aber jene, deren Wirken er miterlebt hatte: Beute, Landbesitz und Lust am Kampf. Für ihn aber galt, unverletzt und unbeschadet zurückzukommen nach Beausoleil, nach Les-Baux, zur weißen Burg und einer Liebe wie mit Ragenarda.
Ragenarda, o Ragenarda!
Sie hatte ihn verführt, im Sommer, unter der Eiche im Burghof, in einer Nacht, in der er sich ein Dutzend Arme und hundert Finger gewünscht hatte, für ihren wissenden Körper. Atemlos hatte er zwischen den Umarmungen ihren Erzählungen gelauscht - so vieles, das er nicht gewusst hatte!
Sie lehrte ihn Leidenschaft, Neugierde und Nachdenklichkeit. Ihre ruhige Kraft war wie Wasser, das Steine schliff. Vieles, was er in leidenschaftlichen Sommernächten lernte, vom Flüstern in vom Mondglanz erfüllten Stunden, verstand er erst heute. Statt blind an das Schicksal zu glauben, das Gott ihm durch den Mund eines Priesters wahrsagte und alles hinzunehmen, begann er an sich zu glauben. Dass sein Leben mehr sein konnte als Anstrengung, ständiges Lernen und Abhängigkeit von Grafen, Lehensnehmern und klösterlichen Geboten, das hatte Ragenarda ihn gelehrt. Die Trennung von ihr, Liebe und Ziel seiner Jugend, von den Meeresstränden und Pinien, hatte ihm fast das Herz gebrochen. Nein. Nicht »beinahe«; sein Herz war geborsten. Gab es eine andere Ragenarda, die jene Splitter zusammenfügen und ihn zu jener ruhigen Gelöstheit in Ragenardas Armen zurückführen konnte? Nicht in Peters vieltausendfüßigem Tross.
Hier oder dort - nach ihr zu suchen, erschien sinnlos. Er
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