Jesus von Nazaret
AnmaÃung! Einige Juden merken sich diese gotteslästerlichen Worte und sie werden sie später gegen Jesus verwenden.
Diese Szene bewahrt davor, Jesus nur als eine weiche, duldsame und liebe Gestalt zu sehen. Der Wutausbruch im Tempel zeigt, dass er auch zornig und kämpferischsein konnte, und das beweist wiederum, dass Jesus keine abgehobene Himmelsfigur war, sondern ein »wahrer« Mensch, der die ganze Bandbreite der menschlichen Gefühle kannte: von der Trauer und Angst bis zu Freude, Zorn und Wut. Jesus hat sich jeden Augenblick ganz und gar auf Gott eingelassen, seine Verbundenheit mit Gott war total. Gleichzeitig war er ein wirklicher, geschichtlicher Mensch â und zwar ohne die Möglichkeit, aus seinem menschlichen Schicksal auszubrechen und sich in ein Jenseits zu flüchten.
Mit Jesus verhält es sich nicht wie mit einem König, der das Leben seiner Untertanen einmal aus nächster Nähe erfahren möchte und deshalb in normalen Kleidern sein Schloss verlässt und sich unter das Volk mischt. Wenn es ihm zu viel, zu gefährlich oder zu anstrengend wird, kann dieser König jederzeit sein Inkognito aufgeben, er kann wieder ins Schloss zurückkehren oder seine Soldaten holen. Bei Jesus ist das anders. Er schneidet sich jede Möglichkeit ab, sozusagen zurück ins Schloss zu gehen. Er begibt sich unter die Menschen, aber ohne eine Hintertür. Er versagt sich freiwillig jede Chance zum Rückzug. Er bindet sich ein für alle Mal selbst an sein menschliches Schicksal. Und so ist sein Leben nicht nur Spiel oder Schein, sondern echte Solidarität mit den Menschen. Darin liegt seine tiefe Mitmenschlichkeit.
Ob Jesus wusste, dass seine Aktion im Tempel ein direkter Angriff auf die Kaste des Priesteradels war? DieSadduzäer gingen aus den vornehmsten Kreisen der Jerusalemer Aristokratie hervor, sie bekleideten die hohen priesterlichen Ãmter und verwalteten den Tempelkult. Besonders einflussreich und mächtig war die Familie des ehemaligen Hohepriesters Hannas, dessen Schwiegersohn Kaiphas seit dem Jahr 18 n. Chr. dieses Amt innehatte.
Die Mitglieder der Familie des Hannas hätten es sehr gut verstanden, »Geldgeschäfte zu machen«, heiÃt es bei Flavius Josephus. 62 Sie kontrollierten so gut wie alles, was mit dem Tempelkult zusammenhing, und schlugen daraus beachtlichen Profit. Auf dem Tempelberg gab es die sogenannten Hannashallen, das waren Kaufhallen und Wechselstuben, die für die Tempelbank arbeiteten und die Pilgermassen mit Tempelgeld, Opfertieren und den damals üblichen Devotionalien versorgten. 63
Dieser fromme GroÃbetrieb war ein einträgliches Geschäft. Der religiöse Kult eng verflochten mit priesterlicher Macht und wirtschaftlichen Interessen. Der Tempel war nicht nur ein Ort des Gebetes, sondern auch ein Marktplatz, eine Bank und ein Verwaltungszentrum. Und die Verwalter der Tempelanlage waren die wichtigsten Arbeitgeber in Jerusalem. An die zehntausend Menschen standen in ihrem Dienst oder waren von ihnen abhängig. Für die Pilger in Jerusalem war das ganz normal. Nur für Jesus anscheinend nicht.
In der Tat ist sein Verhältnis zu Gott, wie es sich schonbeim Zwölfjährigen und bei der Taufe am Jordan zeigt, ganz anders als das Gottesbild, wie es im Tempelkult zu Jerusalem zum Ausdruck kommt. Für Jesus ist Gott »Abba«, also wie ein Vater, zu dem er sich wie ein geliebter Sohn verhält, und dessen Vertrauen und Liebe er empfängt ohne jede Einschränkung und ohne jede Vorgabe. Im Tempel dagegen schiebt sich zwischen Gott und den Gläubigen ein ganzer Apparat von Priestern. Gott erscheint unerreichbar und erst durch kostspielige Opfer und Rituale kann man das Wohlwollen der Priester gewinnen und sich dadurch Gott nähern und seine Gunst gewinnen. Frömmigkeit bedeutet in diesem System die korrekte Erfüllung von Gesetzen und die Verrichtung von Opferhandlungen. Nicht die innere Einstellung und das eigene Gewissen zählen, sondern äuÃere Handlungen. Nicht die Erfahrung eines liebenden Vaters ist vorrangig, sondern die Furcht vor einem Gott, der straft, wenn man ihn nicht durch eigene Leistungen gnädig stimmt.
Das alles greift Jesus an, wenn er im Tempel auf die Händler und Geldwechsler losgeht. Dabei war ihm sicher klar, dass er am ganzen System der Priesterherrschaft und der religiös verbrämten Geldmacherei nichts ändern kann. Aber mit seinem
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