Jesus von Nazaret
vorzulesen und darüber zu predigen. In dem Text des Propheten wird das Kommen eines Messias am Ende der Zeit angekündigt.
Nach der Lesung rollte Jesus die Schriftrolle zusammen und setzte sich, wie es üblich war, wieder hin, um über den gehörten Text zu predigen. Es war totenstill und alle Augen waren auf ihn gerichtet. Man kann sich vorstellen, wie überrascht die Leute waren, als Jesus nun sagte: »Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.«
Zunächst staunten die Gottesdienstbesucher, wie klug Jesus redete, und sie konnten es gar nicht fassen, dass dies der Sohn des Zimmermanns war, den sie alle kannten und der unter ihnen aufgewachsen war. Aber an diesem Stolz der Dorfgemeinschaft auf ihren besonderen Sohn schien Jesus nicht gelegen gewesen zu sein. Er sprachweiter, und aus der Bewunderung wurde Unbehagen und Zorn. Man hatte erwartet, dass Jesus tröstende Worte darüber sagt, wie Gott wirken wird, wenn er einmal kommt, wie er Armen hilft, die Unterdrückten befreit und die Kranken heilt. Das hätte man verstanden und für angemessen empfunden.
Jesus aber redete nicht darüber, wie gut und schön die Welt sein könnte oder einmal werden wird. Arme, Kranke und Gefangene gab es für ihn jetzt. Und Hilfe für sie alle gab es ebenfalls schon jetzt. Und er deutete an, dass er derjenige ist, der diese Hilfe ist, nicht irgendwann und möglicherweise, sondern jetzt.
Das war mehr, als die Leute in Nazaret vertragen konnten. Was Jesus da sagte, ging ihnen viel zu nahe. Und wer war er denn, dass er sich für einen Heilsbringer halten konnte? Er war doch der Sohn des Josef, seine Mutter und seine Geschwister lebten im Dorf. Was bildete er sich ein, sie so zu belehren und sich als etwas Besseres aufzuspielen! Wenn er wenigstens ein paar Wunder gewirkt hätte wie in anderen Orten Galiläas, dann hätte man ihn bewundern und feiern können. Aber selbst das tat er nicht. Aus Ãrger wurde Zorn: Die Leute sprangen auf und trieben Jesus zum Ort hinaus bis zu einem Abhang, wo sie ihn hinabstürzen wollten. Aber plötzlich schienen sie völlig machtlos. Jesus schritt einfach mitten durch die Menge hindurch und ging aus Nazaret hinaus.
7.
D ER SANFTE R EBELL
Jesus hielt sich die meiste Zeit in Galiläa auf. Nur ab und zu verlieà er diese Gegend. Wie oft er in Jerusalem war, darüber gibt es unterschiedliche Angaben. Nach den Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas, die man wegen ihrer Ãhnlichkeit »Synoptiker« nennt, war Jesus nur einmal in der jüdischen Hauptstadt, gegen Ende seines Lebens. Der Evangelist Johannes, der sich von den Synoptikern inhaltlich erheblich unterscheidet, berichtet von mehreren Jerusalembesuchen, einer davon steht ganz am Anfang seines Wirkens.
Ein Ereignis, das sich im Tempel zu Jerusalem abspielte, wird allerdings in allen vier Evangelien geschildert. Dieser Zwischenfall zeigt Jesus von einer ganz anderen Seite. Der sonst so sanftmütige Mann aus Nazaret, der nur mit dem Wort kämpft und der zu jeder Form von Gewalt unfähig scheint, tritt plötzlich aggressiv auf und wird handgreiflich. Der äuÃere Rahmen ist das Passahfest in Jerusalem, zu dem jedes Jahr Tausende von Pilgernin die Stadt strömen. Als Jesus den riesigen Vorhof des Tempels betritt, sieht er die Tische und Stände der Geldwechsler und die Käfige und Verschläge mit den Tauben und Schafen, die als Opfertiere verkauft werden. (Joh 2,13-22 parr)
Beim Anblick dieser heiligen Geschäftemacherei packt Jesus der heilige Zorn. Er stöÃt die Tische, Hocker und Käfige um, schlägt mit einem Strick auf die Geldwechsler und Verkäufer ein und schreit sie an, dass sie von hier verschwinden sollen, denn sie hätten aus dem Haus seines Vaters eine Räuberhöhle und ein Kaufhaus gemacht.
Dieser Wutanfall sorgt natürlich für Aufsehen. Die Tempelpolizei greift sofort ein und Jesus wird von den Vorstehern der Juden zur Rede gestellt. Wer er eigentlich glaube zu sein, fragen sie ihn, dass er sich hier aufführe wie ein wild gewordener Prophet. »Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten«, antwortet ihnen Jesus. Alle, die das hören, halten eine solche Voraussage natürlich für blanken Unsinn. Fast fünfzig Jahre hat man bisher am Tempel gebaut und dieser unbekannte Zimmermann aus Nazaret will ihn in drei Tagen errichten? Was für eine
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