Jesus von Nazaret
verkündete, sondern von Fall zu Fall entschied und jeden einzelnen Menschen in seinem Gewissen ansprach. Er bot keine fertigen Antworten. Stattdessen machte er die Menschen darauf aufmerksam, was in ihrem Lebenschieflief und wie sie sich von lebensfeindlichen Ãngsten und Abhängigkeiten befreien konnten. Das »Heil« jedes Einzelnen, und zwar das körperliche und seelische, lag ihm am Herzen, und seinen Protest erhob er immer dann, wenn Menschen durch irgendeine Entfremdung oder Unmenschlichkeit gehindert wurden, »heil« und frei zu sein.
Dass Jesus damit in Konflikt mit der jüdischen Gesetzesfrömmigkeit geriet, war unweigerlich. Das Gesetz, das war die Grundlage des Lebens eines jedes Juden, es regelte sein Leben von morgens bis abends, von der Geburt bis zum Tod. Was Gott von seinen Gläubigen verlangte, das stand in der Bibel, hauptsächlich in den fünf Büchern Mose, Pentateuch genannt. Um diese göttlichen Gebote möglichst genau zu befolgen, wurden sie dauernd ausgelegt und erweitert, sodass sich ein Netz von Vorschriften über das alltägliche Leben spannte.
Eine besondere Rolle kam dabei der Heiligung des Sabbats zu. Eine lange Liste schrieb vor, was am Sabbat alles verboten war. Das reichte von Arbeiten auf dem Feld wie Ernten und Dreschen, bis zu kleinen Tätigkeiten im Haushalt wie dem Nähen einer zerrissenen Tunika oder dem Tragen eines Eimers. Auch die Verbote wurden durch neue Bestimmungen ergänzt, in denen etwa die Frage aufgeworfen wurde, ob das Verbot, am Sabbat ein Tier zu schlachten, auch bedeutet, dass man einen Floh nicht zerquetschen darf. 65
Wer es so genau nahm, der musste natürlich Anstoà daran nehmen, wie Jesus und seine Jünger sich verhielten. Einmal wanderten sie an einem Sabbat durch ein Kornfeld, rissen Ãhren ab, zerrieben sie zwischen den Fingern und aÃen die Körner. Damit machten sie sich gleich mehrerer Vergehen schuldig. Sie hatten mehr Schritte gemacht als erlaubt, sie hatten Erntearbeit geleistet und noch dazu Essen bereitet. Als einige fromme Pharisäer sich darüber empörten und Jesus angriffen, hielt er ihnen entgegen: »Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.« (Mk 2,27)
Diese Worte bedeuten nicht weniger als eine Revolution, eine Wende in der ganzen Auffassung von Religion, und sie haben eine ungeheuer befreiende Wirkung. Jesus will damit die Gesetze nicht abschaffen. Er will nur an ihren ursprünglichen Sinn erinnern. Die Gesetze wollen nämlich eine Beziehung zwischen Gott und den Menschen herstellen. In dieser Beziehung sollte Gott jemand sein, der es gut mit den Menschen meint und ihnen Hilfe zum Leben gibt. Wo aber die Gesetze nur noch um ihrer selbst willen erfüllt werden, da sind sie nicht mehr Hilfe, sondern eine Last, ein System der Unfreiheit. Und das, was Gott mit den Menschen will, droht verloren zu gehen hinter einem Wust von Vorschriften und Verboten und einem falschen Gehorsam. »Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig«, so wird es der Apostel Paulus einmal ausdrücken. (2 Kor 3,6)
In seiner Entgegnung an die übereifrigen Gesetzeshüter sagt Jesus auch, was Gott will. Gottes Wille ist Liebe. Und nur der, der diese Liebe annimmt und weitergibt, erfüllt Gottes Willen. Darum ist für Jesus das doppelte Liebesgebot das wichtigste aller Gebote: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele« und »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« (Mt 22,36-40 parr) Beides gehört zusammen, beides bedingt einander. Lieben heiÃt, Gottes Willen tun, und es heiÃt, die Liebe, die man von Gott empfängt, an den Mitmenschen praktizieren.
Wie das ganz konkret im Alltag aussehen kann, das hat Jesus wie immer in Gleichnissen begreiflich zu machen versucht. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn hat ein Vater zwei Söhne. (Lk 15,11-32) Der jüngere von beiden lässt sich sein Erbteil auszahlen und zieht weg in ein fernes Land. Dort führt er ein ausschweifendes Leben. Sein Geld hat er bald verprasst, und er muss froh sein, wenn er Schweinefutter zu essen bekommt. Reuig kehrt er zurück in sein Elternhaus. Wider Erwarten jagt ihn sein Vater nicht weg, er ist auch nicht böse, macht ihm nicht einmal Vorwürfe. Schon als er seinen Sohn von Weitem sieht, läuft er ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn. Dessen Schuldbekenntnisse
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